Napoleon scheitert vor Moskau
13. Juni 2012Ein Haufen elender Gestalten überquert im Dezember 1812 den polnisch-russischen Grenzfluss Njemen. Fast erfroren und halb verhungert retten sich die überlebenden Soldaten der französischen Grande Armée auf befreundetes polnisches Territorium. Ihr Feldherr, Napoleon Bonaparte, hat seine Männer zu diesem Zeitpunkt schon verlassen. In einer Kutsche rast er Richtung Paris. Und lässt das größte militärische Desaster hinter sich, das Europa bislang erlebt hat.
Machtspiele
Erst im Juni des Jahres hatte die Grande Armée Russland überfallen. Grund der Spannung: Die eigentlich befreundeten Herrscher Napoleon und Zar Alexander I. misstrauen sich immer stärker. Alexander möchte vor allem wieder mit Napoleons Erzfeind Großbritannien Handel treiben dürfen. Mitte 1812 tritt Napoleon deshalb an, um Russland seinem Willen zu unterwerfen. Mit einigen schnellen Siegen soll dies geschehen. Seine Soldaten stehen hinter ihm: „Trotz der ungewissen Zukunft gab es Begeisterung, sehr viel sogar", erinnerte sich ein Offizier der Garde.
Kriegsopfer
Der französische Kaiser genießt einen ehrfurchtgebietenden Ruf: Bis auf Großbritannien hat er ganz Europa bezwungen. Nach offizieller und damit recht zweifelhafter Zahlenangabe konzentriert Napoleon fast 600.000 Soldaten an der russischen Grenze. Davon ist beileibe nicht jeder ein Franzose: Sachsen, Bayern, Polen, Italiener, Holländer und sogar Spanier kämpfen für ihn. An Russland soll allerdings auch der begnadete Feldherr Napoleon scheitern – und gerade in der Größe seiner Armee liegt ein Grund für ihren Niedergang: das Heer ist zu groß, um ausreichend versorgt zu werden. Bereits wenige Tag nach der Invasion sterben die Soldaten zu hunderten an Seuchen, Unterernährung und Überanstrengung. Extreme Hitze und Regenfälle machen den Vormarsch zur Tortur.
Doch Napoleon plagt ein ganz anderes Problem: Die Russen verweigern ihm den alles entscheidenden Kampf, stattdessen ziehen sie sich immer weiter in das Landesinnere zurück. Dabei braucht Napoleon dringend die militärische Entscheidung, um rechtzeitig vor dem Winter in gastlichere Gefilde zurückzukehren. Als es bei Borodino doch zur großen Schlacht kommt, erleiden die Russen eine schmerzhafte Niederlage. Und müssen kurz darauf die alte Hauptstadt Moskau räumen, die die Franzosen besetzen.
Napoleons Irrtum
Napoleon glaubt sich am Ziel und wartet auf das russische Friedensangebot. Seiner Logik zufolge hat er die russische Armee geschlagen, die alte Hauptstadt besetzt – und damit den Krieg gewonnen. Doch die Russen denken gar nicht an Aufgabe, denn ihre Verwaltung sitzt in der neuen Hauptstadt St. Petersburg. Die Zeit arbeitet für sie, denn der Wintereinbruch naht. Für die schlecht versorgten und miserabel für den Winter ausgerüsteten Soldaten der Grande Armée wird die Kälte schließlich der Feind sein, der sie in die Knie zwingt. Viel zu spät gibt Napoleon den Befehl zum Rückzug und verurteilt seine Männer damit zum Tod. Von den rund 27.000 italienischen Soldaten der Grande Armée kehrt beispielsweise nur ein rundes Tausend zurück.
Zwei Perspektiven
Mitreißend erzählt nun der britische Historiker Adam Zamoyski die Geschichte des Feldzuges von 1812. Klug ineinander verzahnt schildert Zamoyski die französische und russische Sicht des Krieges. Zugleich besteht die Stärke des Buches in der Vielzahl von Augenzeugen, die in Briefen, Tagebüchern oder Erinnerungen zu Wort kommen: einfache Soldaten ebenso wie Offiziere. Zamoyski bietet keine leichte Kost: Die Brutalität dieser Auseinandersetzung lässt den Leser mehr als einmal erschauern. Und sie macht deutlich, dass Krieg auch im 19. Jahrhundert so gar nichts Ritterliches an sich hatte. Dabei wird so mancher Mythos, der den Feldzug von 1812 umrankt, zerstört: Der russische Rückzug ins Landesinnere – der Napoleon zur Verzweiflung trieb – war zum Beispiel keineswegs eine strategische Raffinesse, um die feindlichen Nachschubwege zu überlasten und die Franzosen fern von zuhause jämmerlich zugrunde gehen zu lassen. Russlands Armee profitierte dabei vielmehr von der Inkompetenz ihrer Befehlshaber. Die waren nämlich in erster Linie damit beschäftigt, sich beim Zaren gegenseitig der Unfähigkeit zu bezichtigen. Das Heer war derweil gelähmt und es blieb nur der Rückzug – letztlich das absolut Richtige.
Ob Napoleon je erfahren hat, dass ihn vor allem die Unfähigkeit seiner Gegner zu Fall gebracht hat? Die Geschichte wäre zum Lachen, wenn dabei nicht insgesamt eine Million Menschen auf beiden Seiten umgekommen wären.
Adam Zamoyski: 1812. Napoleons Feldzug in Russland, C.H. Beck, 720 S., 29,95 Euro