20 Jahre Euro: Fünf Prognosen im Faktencheck
1. Januar 2022Als die Sektkorken zum Jahreswechsel 2002 knallten, standen zwölf EU-Staaten kurz vor dem Ende ihrer eigenen Währung. Neben Deutschland hielten auch in Belgien, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Portugal und Spanien Euroscheine und -münzen Einzug in die Portemonnaies.
Ganz neu war der Euro zu dem Zeitpunkt nicht, denn schon drei Jahre lang war er als sogenanntes Buchgeld eingesetzt worden, also zum Beispiel für Überweisungen oder im internationalen Handel.
Die gemeinsame Währung schweißte die Länder enger zusammen. Es war ein großer Schritt für die Europäische Union. Und auch eine große Wundertüte, denn niemand konnte mit Sicherheit vorhersagen, wie sich der Euro bewähren würde.
Fünf Prognosen, die zur Zeit der Währungsumstellung einige Wirtschaftsexperten, Politiker oder Beobachter vertraten, hat sich die DW angesehen und geprüft, ob sie 20 Jahre später tatsächlich eingetreten sind.
1. Der Euro wird eine neue Leitwährung
DW-Faktencheck: richtig
Leitwährungen heißen so, weil sie in größerem Maße auch außerhalb des Raumes verwendet werden, in denen sie offizielles Zahlungsmittel sind.
1997 argumentierte Fred Bergsten, damals Direktor des Peterson Institut für Internationale Wirtschaftswissenschaften (PIIE), der Euro werde "mindestens die zweitwichtigste Währung der Welt" werden und die alleinige Dominanz des US-Dollar beenden.
Egal, welche Statistik oder welchen Indikator man sich ansieht: Nach US-Dollar und Euro kommt heute lange erst einmal nichts.
Im Punkt Reservewährung ist der Dollar unangefochten die Nummer eins: Statistiken des Internationalen Währungsfonds zufolge wurden im zweiten Quartal 2021 rund 59,2 Prozent aller offiziellen Währungsreserven in US-Dollar gehalten. An zweiter Stelle folgt der Euro mit 20,5 Prozent.
Gleichauf sind die beiden Währungen im internationalen Zahlungsverkehr. Das geht aus Zahlen der Organisation SWIFT hervor, über deren Rechner fast alle weltweiten Überweisungen abgewickelt werden. Demnach wurde im Oktober über das SWIFT-Netzwerk ungefähr genauso viel Geld in US-Dollar (39,1 Prozent) wie in Euro (38,1 Prozent) überwiesen. Ein Jahr zuvor lag der Euro sogar knapp vor dem Dollar.
Der US-Dollar liegt als globale Leitwährung zwar weiter vorn, doch der Euro hat sich als zweitwichtigste Währung etabliert.
2. Früher oder später wird Großbritannien dem Euroraum beitreten
DW-Faktencheck: falsch
Nun, dies erwies sich wohl als die größte Fehleinschätzung überhaupt. Zugegeben, die Skepsis gegenüber dem Euro war schon in den 1990er-Jahren in Großbritannien groß. Doch es gab auch starke Befürworter. Für den damaligen britischen Premier Tony Blair lag es im Interesse des eigenen Landes, der Eurozone beizutreten. Auch viele Vertreter aus der Wirtschaft trauten dem Euro den Status einer Parallelwährung zu, die das britische Pfund eines Tages ablösen könnte.
Ursprünglich sollten die Briten selbst darüber abstimmen dürfen. Doch dazu kam es nie. Stattdessen nahm die Geschichte einen ganz anderen Lauf und das schicksalhafte Brexit-Referendum ebnete 2016 den Weg, dass Großbritannien sogar aus der EU austrat.
3. Der Euro wird keine so harte Währung wie die Deutsche Mark
DW-Faktencheck: falsch
Die Deutschen waren auf ihre D-Mark stolz. Sie galt als harte Währung, also als besonders stabil im Wert über lange Zeit.
Bevor der Euro als Buchgeld eingeführt wurde, glaubte einer Umfrage zufolge nur knapp ein Viertel der Deutschen, dass der Euro so stabil wie die D-Mark wird.
Inzwischen aber hat sich der Euro als härter erwiesen als die D-Mark. Seit 2002 hat die Gemeinschaftswährung jedes Jahr im Schnitt 1,6 Prozent an Wert verloren. Bei der D-Mark lag die Inflation im ebenso langen Zeitraum seit 1982 bei 2,4 Prozent pro Jahr. Nach 20 Jahren blieb beim Euro also mehr Kaufkraft übrig als bei der D-Mark.
Wobei solche Vergleiche natürlich mit Vorsicht zu genießen sind, weil sich die Zeiträume historisch unterscheiden. So war die Inflation in den Jahren nach der Wiedervereinigung 1990 besonders hoch. Finanz- und Schuldenkrise seit 2007 führten dagegen lange zu ungewöhnlich niedrigen Inflationsraten im Euroraum - aber das beginnt sich wegen der Corona-Pandemie ja gerade zu ändern.
4. Ihre nationalen Währungen aufzugeben, wird für die Länder des Südens wirtschaftlich zu einem Problem
DW-Faktencheck: richtig
Seit Ende des Zweiten Weltkriegs haben sich die Länder im Süden Europas wirtschaftlich weniger dynamisch entwickelt als die im Norden. Auch waren ihre Währungen weniger stabil als die D-Mark.
Die Wirtschaftskraft der zwölf Länder, die 2002 den Euro als Bargeld eingeführt haben, ist seitdem um knapp 50 Prozent gewachsen. Das ist zwar nur gut halb so stark wie das US-Wachstum, aber immerhin.
In den meisten südlichen Ländern war das Wachstum allerdings deutlich schwächer als im Norden. Das gilt selbst dann, wenn man Luxemburg und Irland nicht berücksichtigt, wo das Wachstum wegen der dortigen Finanz- und IT-Branchen besonders stark war.
Portugal und Italien hinken besonders hinterher. Und Griechenland konnte in 20 Jahren fast überhaupt kein Wachstum verzeichnen.
Der Grund liegt in der Euro-Schuldenkrise vor rund zehn Jahren, in deren Folge die Wirtschaft in vielen Ländern sogar geschrumpft ist.
In dieser Krise war es für Länder wie Griechenland und Italien ein Drama, keine eigene Währung zu haben. Dann nämlich hätten sie das Schlimmste durch eine Abwertung abfedern können - wie sie das in der Vor-Euro-Zeit oft gemacht hatten. Damals galt: Verloren Drachme oder Lira gegenüber der D-Mark an Wert, wurden griechische und italienische Produkte im Ausland billiger und damit attraktiver. Gleiches galt für Urlaube, die für deutsche und andere Touristen dort günstiger wurden.
Mit dem Euro entfiel die Möglichkeit der Abwertung und die Krise schlug voll durch. Das zeigen die noch immer hohen Arbeitslosenzahlen.
5. Deutschland und andere Länder des Nordens müssen für die Schulden der wirtschaftlich schwächeren Ländern haften
DW-Faktencheck: richtig, aber mit Einschränkungen
Schon vor der Einführung des Euro waren sich die meisten Ökonomen einig: Die Währungsunion kann nur funktionieren, wenn ihre Mitglieder ähnlich wirtschaften. Um genau dafür zu sorgen, gibt es Konvergenzkriterien, auch Maastricht-Kriterien genannt. Sie legen Obergrenzen fest, zum Beispiel für das Haushaltsdefizit (3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) und die Höhe der staatlichen Schulden (60 Prozent). Die muss ein Land einhalten, bevor es der Euro-Zone beitreten kann.
Zwanzig Jahre später wird deutlich: Bei Schuldenstand und Defizit verletzen so gut wie alle Länder die Regeln. Wobei man fairerweise sagen muss, dass die Kosten der Pandemiebekämpfung die Bilanz zusätzlich belasten.
Die Horrorvorstellung Deutschlands und anderer wohlhabenderer Länder war es immer, eines Tages für die wirtschaftlich schwächeren Länder zahlen zu müssen. Doch selbst während der Eurokrise wurde die Aufnahme gemeinsamer Schulden ("Eurobonds") vermieden. Stattdessen erhielten die Krisenländer Bürgschaften und Kredite im dreistelligen Milliardenbereich, zum Teil mit sehr langen Laufzeiten. Nur wenn diese platzen sollten, würden die Geberländer auf den Belastungen sitzenbleiben. Bisher ist ihnen aber kein Schaden entstanden, ganz im Gegenteil: Allein Deutschland hat für das an Griechenland verliehene Geld bis 2018 fast drei Milliarden Euro an Zinsen eingenommen.
Corona brachte dann die Wende. Um den Wiederaufbaufonds der EU zu finanzieren, nehmen die Länder nun erstmals Schulden auf, für die sie gemeinsam haften. Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen, sagen die Befürworter. Kritiker dagegen beklagen das Ende der staatlichen Eigenverantwortung und den Beginn einer Schuldenunion.
Mitarbeit: Anna Bakovic