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25 Jahre Charta 77

Christpoph Scheffer6. Januar 2002

Im Januar vor 25 Jahren unterzeichneten in Prag 200 Intellektuelle ein Manifest, das zum Symbol für den Widerstand der Intellektuellen in Osteuropa wurde - die Charta 77.

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Mitglieder der Charta 77, unter ihnen der spätere Präsident Václav Havel (zweiter von links)Bild: AP

Plastic People of the Universe nannte sich die Kult-Band der
Oppositionellen, die mit drastischen Texten das kommunistische Regime anprangerten: "Mit zwanzig willst du vor Ekel kotzen, mit vierzig noch viel mehr, erst mit 60 bist du so verkalkt, dass du ruhig schlafen gehen kannst." Die Verhaftung einiger Mitglieder der Plastic People war der
Auslöser für eine Bürgerrechtsbewegung in der Tschechoslowakei, die unter dem Namen Charta 77 bald international Schlagzeilen machte.

Hinzu kam die Entspannungspolitik des Westens gegenüber den realsozialistischen Ländern. Die Oppositionellen in Prag fürchteten beim Westen in Vergessenheit zu geraten. "Wir haben gesehen, es gibt die schweigende Verbindung zwischen dem Westen und dem Osten, zwischen Westeuropa und der Sowjetunion. Und wir haben gedacht, dass wir wirklich alleine geblieben sind," sagt die Soziologin Jirina Siklová.

Jirina Siklová gehörte mit Schriftstellern und Intellektuellen wie Václav Havel, Jiri Dienstbier und Pavel Kohout zu den Begründern der Charta 77. Am 1. Januar vor 25 Jahren brachten sie ihr Manifest in Umlauf.

Eigentlich ein harmloser Text, wie Jirina Siklová heute erklärt: "Wir haben unsere Regierung nur an das erinnert, was sie selbst in der Schlussakte von Helsinki unterzeichnet hatte." Nämlich die Anerkennung grundlegender Bürgerrechte wie Meinungs-, Religions- und Reisefreiheit zum Beispiel. Die Charta 77 bot den kommunistischen Machthabern - halb ironisch - ihre Hilfe bei der Umsetzung dieser internationalen Verpflichtung von Helsinki an.

Auf diese Provokation reagierte das Regime mit mehr Gewalt als erwartet. Václav Havel und zwei seiner Mitstreiter wurden beim Gang zur Post verhaftet, noch bevor sie den Text der Charta an Präsident Husak abschicken konnten. Einer der Chartisten, der Philosoph Jan Patocka, starb nach einem brutalen Verhör. Dennoch wurden aus gut 200 Unterzeichnern der Charta 77 schnell 2000. Die Resonanz im Westen war groß, das Regime in Prag bekam es mit der Angst zu tun.

Der zweite Gegenschlag der Kommunisten war die später so genannte Anti-Charta - ein Manifest regimetreuer Künstler, das von der populären Schauspielerin Jirina Svorcova im Prager Nationaltheater vorgetragen wurde: "Wir verachten jene, die mit eitler Überheblichkeit, egoistisch oder sogar für schnödes Geld schreiben. Auch bei uns findet sich eine
solche Gruppe von Abtrünnigen und Verrätern, die sich isolieren von ihrem eigenen Volk und sich so zu Instrumenten der antihumanistischen Kräfte des Imperialismus machen, die aufrufen zur Zersetzung und Zwietracht zwischen den Völkern"

Zu jenen tschechoslowakischen Künstlern, die als Reaktion auf die Charta 77 der kommunistischen Staatsführung die Treue schworen, gehörte auch der Schlagersänger Karel Gott: "Damals hat mein Instinkt mir befohlen, hier zu bleiben, weil ich in Deutschland immer als 'die goldene Stimme aus
Prag', 'der romantische Tenor aus Prag' bezeichnet wurde - ein Mann, der sein Land liebt, seine Leute, die es ihm praktisch ermöglicht haben, sich zu verwirklichen."

Der offene Widerspruch gegen das Regime blieb begrenzt auf einige wenige. Die Charta 77 wurde keine Massenbewegung, anders als ein paar Jahre später die unabhängige Gewerkschaft Solidarnosc im Nachbarland Polen. Doch für die Tschechen und Slowaken war die Charta ein Zeichen der Hoffnung, das viele Menschen auch indirekt unterstützten.

Mehr als 12 Jahre später, erst im November 1989, gelang die Wende in der Tschechoslowakei. Viele Erstunterzeichner der Charta 77 gingen damals in die Politik, unter ihnen Jiri Dienstbier als Außenminister und Václav Havel als Präsident.