30 Jahre nach Mauerfall - Zeit für Versöhnung?
10. Juli 2019Ostdeutschland hatte es nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 leichter als Polen, Tschechien oder andere ehemalige Ostblock-Staaten. Nicht nur wirtschaftlich halfen die anderen Deutschen aus dem Westen, sondern auch personell. Posten in Justiz, Verwaltungen, Wirtschaft und Militär wurden entweder mit unbelasteten Ostdeutschen oder eben mit West-Importen besetzt. Die alten DDR-Eliten wurden so entmachtet - mit einer Ausnahme.
Die SED, die Regierungspartei der DDR, nannte sich um. Die heutige Linkspartei ist ihr Nachfolger. Ihr wohl bekanntester Zeitzeuge, Gregor Gysi, soll beim Revolutionsjubiläum im Herbst eine Rede halten.
Reden hielt Gysi bereits vor 30 Jahren. Zu den Wegmarken der friedlichen Revolution in der DDR gehört die Demonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz. 400.000 Menschen nahmen damals dabei teil. Erstmals redeten Vertreter des alten Regimes am selben Rednerpult und vor denselben Bürgern wie Reformer und Bürgerrechtler. Auch Gregor Gysi sprach (Foto). Er plädierte dafür, die führende Rolle der SED beizubehalten und verteidigte den damaligen und dann letzten DDR-Regierungschef Egon Krenz.
Gregor Gysi polarisiert - damals wie heute
Gysi war schon damals prominent und umstritten gleichermaßen. Er stammt aus einer einflussreichen großbürgerlichen Berliner Familie, sein Vater war Kulturminister in der DDR. Als einer der wenigen freien Rechtsanwälte in der DDR setzte er sich für Oppositionelle ein, soll dafür aber auch mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet haben. Bewiesen ist das bis heute allerdings nicht, Gysi streitet es ab. Aber der Bundestag hat es Jahre später genauso in einem Untersuchungsbericht festgestellt.
Bis heute sitzt der jetzt 71-Jährige im Bundestag, hat eine treue Fan-Gemeinde und ist gern gesehener Talk-Show-Gast. Er ist einer der letzten Polit-Prominenten mit zwei Biografien - aus der DDR und dem wiedervereinigten Deutschland.
Friedliche Revolution
Leipzig, die zweitgrößte Stadt in Sachsen, war neben Berlin zentraler Schauplatz der Revolution. Hier begannen die Menschen, jeden Montag auf die Straße zu gehen und friedlich zu demonstrieren. Hier entschied sich am 9. Oktober 1989, dass kein Blut fließen sollte. Zwar standen die Panzer schon hinter den Kasernentoren der Stadt, doch sie kamen nicht zum Einsatz. Historiker vermuten, die hohe Zahl der Demonstranten - 70.000 - habe abgeschreckt. Ein Massaker wie in Peking nur wenige Wochen zuvor wiederholte sich in der DDR nicht. Leipzig reihte sich stattdessen in eine Riege von Städten und Staaten in Ost-Europa ein, die den Regime-Change auch ohne Gewalt schafften.
Auch an dieses Ereignis soll 30 Jahre danach erinnert werden. Teil der Feierlichkeiten ist eine Veranstaltung der Philharmonie Leipzig. Es ist allerdings keine Extra-Veranstaltung, sondern Teil einer Veranstaltungsreihe. Die Philharmoniker laden seit 2014 zu Konzertabenden mit Beethovens 9. Sinfonie unter der Überschrift "unterschiedliche Zeitzeugen versöhnlich einzubinden". Dafür haben sie Gregor Gysi eingeladen und eine Rede bestellt.
Politische Erbschleicher?
Doch nicht alle wollen den Weg der Versöhnung gehen. Mehr als 700 Politiker, Künstler, Schriftsteller und Bürger unterzeichneten einen Protest-Brief der Robert-Havemann-Gesellschaft, dem Archiv der DDR-Opposition. Im Brief steht: "Wir sind fassungslos, dass die Geschichtsvergessenheit bereits so weit fortgeschritten ist, dass nun schon diejenigen zu Festreden eingeladen werden, die Revolution und Einheit mit aller Entschiedenheit zu verhindern versuchten." Nun wollten sie sogar noch "im Nachhinein die Revolution für sich beanspruchen".
Auch von offizieller Seite kam scharfe Kritik, vor allem von der Ost-CDU. "Es müssen diejenigen sprechen, die die Freiheit zurückgeholt haben, aber nicht die […] versucht haben, die Freiheit zu unterdrücken", sagte Sachsens Innenminister Holger Stahlknecht. Christian Hirte, Ostbeauftragter der Bundesregierung, hält das für "völlig unangemessen".
Der ehemalige DDR-Bürgerrechtler und langjährige Grünen-Politiker Werner Schulz sprach sich gegen ein Händereichen aus. "30 Jahre nach einer totalitären Diktatur dürfen nicht zu nachsichtiger Relativierung führen." Schulz plädiert auch jetzt noch für einen kritischen Umgang mit der Linkspartei. Gysi vertrete eine falsche Sicht auf die Vergangenheit, argumentiert er. Nämlich dass die aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Probleme im Osten ausschließlich mit der Treuhand und den Verwerfungen nach der Wiedervereinigung zusammenhingen. Gysi wolle übertünchen, dass dies ein Erbe des Staatsbankrotts unter Verantwortung der SED sei.
Lösung in Sicht?
Gysi wieder ausladen? Davor warnte nun ein anderer Zeitzeuge und Bürgerrechtler - Friedrich Schorlemmer. Eine Ausladung käme einer "Zensur" gleich. Gysi sei ein "Anwalt der Bedrängten" gewesen und kein "Mensch der Repressalien". Aus Bürgerrechtlern sollten keine "Bürgerrächer" werden. Schorlemmer weist damit auf eine wichtige Errungenschaft hin: Verfeindete Fronten-Kriege zwischen alten Diktatur-Kadern und ihren Gegner blieben Deutschland bis jetzt erspart. Der friedlichen Revolution folgte eine friedliche Vergangenheitsbewältigung.
Doch die neue Gysi-Debatte zeigt, fertig aufgearbeitet ist die Vergangenheit noch nicht. Auch wenn es Ost-Deutschland in manchen Dingen einfacher hatte als andere - die Vergangenheit kann die Gegenwart schnell einholen.
Gysi jedenfalls hat seine Zusage aufrechterhalten. Vom Veranstalter hieß es inzwischen, man wolle nun auch einen "echten" Bürgerrechtler einladen.