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Glaube

35 Jahre Mauerfall

9. November 2024

Auch 35 Jahre nach dem Mauerfall steht die unsichtbare Mauer zwischen Ost und West. Erst der Blick in das Glaubensleben im Osten zeigt wie Einheit gelingen kann. Ein Beitrag der katholischen Kirche.

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Berlin | Ueberreste der Berliner Mauer an der Bernauer Strasse
Bild: Florian Gaertner/IMAGO

Jubel, Tränen der Freude, Gänsehaut pur – der 9. November 1989 ist einer der bedeutendsten Wendepunkte der deutschen Geschichte. Die Mauer, die ein Land teilte, fiel. Nun sind 35 Jahre vergangen, und dieser historische Moment rückt langsam in die Ferne. In wenigen Jahren wird die Mehrheit der Deutschen die Zeit der Teilung nicht mehr selbst erlebt haben. 
 
Ich selbst wurde erst acht Jahre nach dem Mauerfall geboren und gehöre somit zu den mehr als 32 Millionen Deutschen, die keine eigenen Erinnerungen an ein geteiltes Deutschland haben. Sie kennen weder den Alltag im geteilten Land noch den überwältigenden Moment der Grenzöffnung aus eigenem Erleben. Ich kenne dies lediglich aus den Erzählungen meiner Familie, aber bis weit in meine Jugend kannte ich niemanden, der im Osten gelebt hatte. Berlin war für mich von jeher die wiedervereinigte Hauptstadt eines geeinten Landes. Die Vorstellung einer Mauer, die mitten durch Deutschland verlief, erscheint mir bis heute surreal. Bedauerlicherweise wurde selbst bei uns in der Schule das Thema der deutschen Teilung oft nur oberflächlich behandelt – eine verpasste Chance für das Verständnis unserer jüngeren Geschichte. 
Trotz der physischen Vereinigung ist die mentale Trennung zwischen Ost und West auch für mich bis heute spürbar. Der Osten wird häufig mit einem Blick betrachtet, der zwischen Mitleid und Geringschätzung schwankt – eine Haltung, die einer echten Einheit im Weg steht.  
 
Erst nach der Schulzeit begann ich, mich intensiver mit der deutschen Teilung und ihren vielfältigen Auswirkungen zu beschäftigen. Besonders deutlich wurde mir dies im Kontext der katholischen Kirche. 
Der Osten gilt in der katholischen Kirche als Diaspora-Gebiet, wo Katholiken eine Minderheit darstellen. Diese Situation wurde lange Zeit vor allem defizitär wahrgenommen. Doch meine persönlichen Erfahrungen mit katholischen Studierendengemeinden im Osten haben diese Sichtweise grundlegend verändert und ließen mich meine Vorurteile hinterfragen. 
Während katholische Hochschulgemeinden im Westen meist über mehrere hauptamtliche Mitarbeiter verfügen, müssen die Gemeinden im Osten oft mit minimaler hauptamtlicher Unterstützung auskommen. Was zunächst als Mangel erscheint, hat jedoch bemerkenswerte Stärken hervorgebracht: 
Was im Westen von festen Mitarbeitern übernommen wird, stämmen im Osten ehrenamtliche Studierende. Sie planen Feste, spirituelle Angebote und Ausflüge für die katholischen Studierenden vor Ort. Damit dies gelingt, gibt es an fast jeder Hochschulgemeinde einen demokratisch gewählten Gemeinderat und eine klare Aufgabenverteilung. Es gibt nicht nur einen starken Zusammenhalt innerhalb der Hochschulgemeinden, sondern auch zwischen den verschiedenen ostdeutschen Hochschulgemeinden. Die Gemeinden laden sich gegenseitig zu Festen ein und organisieren gemeinsame Fahrten. Das hat schon lange Tradition. Viele Studierende dort berichten, dass schon ihre Eltern in den Hochschulgemeinden aktiv waren und bis heute mit diesen verbunden sind. Und so bilden die katholischen Studierenden wie eine große Familie, die sich gegenseitig unterstützen. 
Diese lebendige Form des Gemeindelebens steht in deutlichem Kontrast zu manchen westdeutschen Gemeinden, wo oft eine gewisse Konsumhaltung und Unverbindlichkeit vorherrscht. 
 
Die Erfahrungen der ostdeutschen Gemeinden zeigen exemplarisch, wie vermeintliche Schwächen zu Stärken werden können. Sie machen mir auch deutlich, dass ich meine Vorurteile hinterfragen muss und viel von den katholischen Studierenden in Ostdeutschland lernen kann. 
Nach 35 Jahren wird klar: Der lange vorherrschende Blick des Westens auf den Osten war oft von Vorurteilen und Überheblichkeit geprägt. Die westdeutsche Lebensweise wurde häufig als alleiniger Maßstab gesetzt, ohne die eigenen Werte und Errungenschaften der ostdeutschen Gesellschaft anzuerkennen. 
Wahre Einheit bedeutet nicht Gleichmacherei oder die Dominanz einer Seite, sondern dass man den anderen als gleichwertigen Teil ansieht, sich auf einen Perspektivwechsel einlässt und bereit ist eigenes Denken zu hinterfragen.  
Über den Solidaritätszuschlag wurde zwar versucht die finanzielle Ungleichheit auszugleichen, aber sie allein kann keine kulturellen Gräben überbrücken. Der Prozess der inneren Einheit ist auch nach 35 Jahren nicht abgeschlossen – er bleibt eine fortwährende Aufgabe für alle Deutschen. Nur durch kontinuierlichen Dialog und gegenseitige Offenheit können wir zu einer Gesellschaft zusammenwachsen, die ihre Vielfalt als Bereicherung versteht. 
 
Kurzvita: 
Susanna Laux, geboren 1997 in Neuwied. Aufgewachsen in Neuwied-Heimbach-Weis. Bachelorstudium der französischen Kulturwissenschaft und interkulturellen Kommunikation an der Universität des Saarlandes und Masterstudium der demokratischen Politik und Kommunikation an der Universität Trier. Seit Oktober 2023 Volontärin bei der Katholischen Hörfunk- und Fernseharbeit über die katholische Journalistenschule (IFP) in München.