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60 Jahre CERN

Fabian Schmidt1. Oktober 2014

Das CERN ist nicht nur eine einzigartige Forschungseinrichtung auf der Suche nach Antworten auf grundlegende Existenzfragen, sondern steht auch für das Überwinden von Grenzen, sagt Direktor Rolf-Dieter Heuer.

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ALICE-Detektor (Foto: DW)
Der ALICE-Detektor ist eine der großen Kameras am Large Hadron Collider (LHC) im CernBild: DW/F. Schmidt

Deutsche Welle: Was bedeuten 60 Jahre CERN für sie, nicht nur aus wissenschaftlicher, sondern auch politischer Sicht?

Rolf-Dieter Heuer: In den 60 Jahren CERN hat sich ja unheimlich viel in der Weltpolitik geändert. Es gab am Anfang Nationalstaaten, die sich gegeneinander abgeschottet haben. Es gab den eisernen Vorhang. Es gab die schwierigen Beziehungen zwischen Taipeh und Peking. Es gab Schwierigkeiten zwischen China und den USA, USA und Russland. Das konnte am CERN alles ignoriert werden. Die Leute aus all diesen Staaten konnten am CERN zusammenarbeiten. Das war über all die Jahre der Fall.

Wenn ich sehe, dass jetzt bei uns Israelis und Leute aus den palästinensischen Gebieten zusammenarbeiten, wenn ich sehe, dass Pakistanis zusammenarbeiten können mit Indern, dann zeigt es, dass Kooperation funktionieren kann – zumindest im wissenschaftlichen und technologischen Bereich. Und das könnte doch auch ein Beispiel für die Politik sein, besser zusammenzuarbeiten.

Das CERN steht für Völkerverständigung: Sie sehen noch nicht einmal, wer von wo kommt – es geht um das gemeinsame Ziel und dass ich merke: 'Der andere ist ja auch ein Mensch wie ich!' Das öffnet vielen Menschen erstmal die Augen. Es gab vor ein paar Jahren mal eine Party organisiert von israelischen und palästinensischen Sommerstudenten zusammen. Dabei haben sie gemerkt, wieviele kulturelle Gemeinsamkeiten sie eigentlich haben. Das war ein ganz großer "Eye-opener". Das müsste es einfach öfter geben.

CERN-Direktor Heuer im DW-Interview (Foto: Judith Hartl)
Rolf-Dieter Heuer im DW-Interview bei der Festveranstaltung "60 Jahre CERN" in BonnBild: DW/Judith Hartl

In den letzten zwei Jahren gab es ja eine längere Pause an ihrem größten Teilchenbeschleuniger "Large Hadron Collider" (LHC), war es auch eine Besinnungspause?

So viel Besinnung war da nicht. Die Leute waren noch beschäftigter als zuvor, weil sie ja jetzt an den Experimenten arbeiten mussten. Sie mussten Verbesserungen und Reparaturen durchführen, aber auch die schon gewonnenen Daten auswerten - da sind sie noch immer dran. Und hinzu kommen die Vorbereitungen auf den neuen "run" - also das Wiederanfahren des Beschleunigers und die nächste Runde von Experimenten. Also, die waren ganz schön beschäftigt. Da war jede Menge Arbeit angesagt.

Die nächste Runde könnte sogar noch spannender werden, denn bei der Jagd nach dem Higgs-Teilchen hatten Sie zumindest eine gute Idee, was zu erwarten war. Haben Sie jetzt auch schon eine ähnliche Vorstellung, wonach sie suchen?

Mit dem Higgs-Teilchen haben wir unser Modell und unser Verständnis über das sichtbare Universum vervollständigt. Wir sind jetzt in der Lage etwa fünf Prozent des Universums zu beschreiben. Bei 95 Prozent haben wir noch relativ wenig bis gar keine Ahnung. Ich denke wir haben da noch einen großen Schritt zu tun und wenn die Natur uns wohlgesonnen ist, öffnen wir vielleicht in den nächsten paar Jahren das erste Fenster zum Verständnis des dunklen Universums. Wann - weiß ich nicht!

Warum war die Entdeckung des Higgs-Teilchens so wichtig für die Entdeckung dieser Zusammenhänge?

Meine Kollegen würden jetzt sagen, das ist falsch ausgedrückt. Aber um es ganz einfach zu sagen: Das Higgs-Teilchen ist notwendig, um den fundamentalen Teilchen, also den kleinen Bestandteilen in den Kernbestandteilen der Atome, ihre Masse zu geben. Je schwerer so ein Teilchen ist, desto häufiger "redet" das Higgs-Teilchen mit ihm. Es "redet" mit dem Photon, dem Lichtteilchen, gar nicht – deswegen ist das Lichtteilchen masselos.

Ohne das Higgs-Teilchen würden wir gar nicht existieren, weil alle Teilchen, die keine Masse haben, mit Lichtgeschwindigkeit durchs Weltall sausen. Es wäre extrem schwierig, wenn nicht sogar ausgeschlossen, gebundene Materie zu bilden. Das Higgs-Teilchen ist der Botschafter dieses Mechanismus.

Jetzt geht es mit der doppelten Energie weiter, mit einer Energie von 14 Terraelektronenvolt im Teilchenbeschleuniger…

Wir hatten bei der letzten Runde erst sieben Terraelektronenvolt, sind dann auf acht gegangen und werden 2015 mit dreizehn beginnen, weil wir erstmal langsam hochwollen. Dann gehen wir später auf 14, also fast eine Verdoppelung – das ist natürlich spannend.

Sie hoffen, dunkle Materie ausfindig zu machen. Was könnten Sie noch finden?

Das Standardmodell, das das sichtbare Universum beschreibt, kann nur eine Näherung an eine andere Theorie sein, die weit mehr beschreibt, als das sichtbare Universum. So, wie die Newtonsche Mechanik nur eine Niedergeschwindigkeitsnäherung zur Relativitätsmechanik ist. Sie merken ja bei unseren Geschwindigkeiten nichts von Einstein. Erst bei den hohen Geschwindigkeiten müssen Sie relativistisch rechnen. Genauso ist das Standardmodell eine Niederenergie-Näherung zu einem größeren Modell. Und das wollen wir jetzt endlich mal finden. Das kann Supersymmetrie sein – die könnte die dunkle Materie erklären. Das können andere Theorien sein. Das kann etwas völlig neues sein, aber es muss endlich mal irgendwas sein, damit wir ein bisschen mehr Verständnis bekommen.

Der Teilchenbeschleuniger LHC soll noch bis 2035 laufen, was könnte danach kommen?

Es hängt davon ab, was der LHC und andere Anlagen, wie etwa Teleskope, jetzt für Ergebnisse hervorbringen. Dann können wir sagen, wohin es geht. Da die Vorlaufzeit für unsere Anlagen sehr lang ist, müssen wir schon jetzt anfangen, über neue Anlagen zu sprechen. Über den LHC wurde zum Beispiel erstmals 1984 gesprochen – also vor dreißig Jahren. Das sprechen kostet noch nicht viel. Man studiert ja nur. Aber wenn Sie nicht anfangen zu studieren, dann haben Sie später nichts. Und deshalb überlegen wir jetzt: Brauchen wir eine großere kreisförmige Anlage oder doch besser eine lineare Anlage oder was auch immer?

Welchen Vorteil hätte denn eine lineare, also geradlinige, Anlage?

Wenn Sie Protonen aufeinander schießen, können Sie auf einem Kreis bleiben. Wenn Sie aber Elektronen aufeinander schießen wollen, verlieren die in einem Kreis soviel Energie, dass Sie irgendwann nicht mehr nachkommen, mit dem Nachfüttern von Energie. Das können Sie nur ausgleichen, indem Sie den Radius der Anlage immer größer machen, und der größte Radius ist unendlich, also linear.

Wie lang wäre die dann?

So etwa 50 Kilometer. Jetzt sind wir bei 27 Kilometern. Diese Größenordnung schreckt mich nicht ab. Das kriegt man hin.

Und welche Zukunft hätte der LHC?

Der LHC wäre zum Beispiel ein Vorbeschleuniger, wenn man weiter mit Protonen arbeiten und diese in einem größeren 100 Kilometer Ring beschleunigen würde. Der Linearbeschleuniger wäre davon völlig unabhängig.

Das Interview führte Fabian Schmidt

Rolf-Dieter Heuer ist seit 2009 Generaldirektor der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN) in Genf. Seit 1984 arbeitet der deutsche Physiker am CERN. Zuvor hatte er am Deutschen Elektronen Synchrotron (DESY) und den Universitäten in Heidelberg und Stuttgart geforscht.