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600.000 Geflüchtete: Willkommen im Alltag!

6. Mai 2022

Vor zwei Monaten kamen die ersten Flüchtlinge aus der Ukraine nach Deutschland, mittlerweile sind über 600.000 registriert. Haben sie sich schon eingelebt?

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Deutschland | Ukraine Krieg | Geflohene in Hamburg
Ukrainische Geflüchtete nach ihrer Ankunft in HamburgBild: Marcus Brandt/dpa/picture alliance

Wer als Geflüchteter aus der Ukraine in Deutschland ankommt, der lernt ganz schnell einige deutsche Wortungetüme, ohne die es unmöglich ist, hierzulande seine ersten Schritte zu machen. Asylbewerberleistungsgesetz gehört dazu, Zuweisungsentscheidung oder auch vorübergehender Schutzstatus. Natalia, Chemikerin, und Alexander, Lehrer für Informatik, haben diese schon längst verinnerlicht. Das Ehepaar ist mit seinen vier Kindern direkt nach Kriegsbeginn aus Odessa geflohen und über Rumänien, Ungarn und Österreich in Bonn gelandet. Sie sagen: "Der Krieg hat uns gelehrt, im Heute zu leben, denn man weiß nie, was morgen ist", sagen sie über einen Dolmetscher.

Natalia und Alexander gehören zu den Geflüchteten, die eine ganze Menge Glück gehabt haben: Nach einigen Wochen in einer Notunterkunft in einem Bonner Gymnasium konnten sie eine große Wohnung ergattern, nur einen Katzensprung vom Rhein entfernt. Die beiden älteren Kinder gehen seit ein paar Tagen zur Schule, ein Rentner-Ehepaar gibt ihnen ehrenamtlich Deutschunterricht, vor einigen Tagen lag der Bescheid im Briefkasten, dass sie Sozialhilfe beziehen dürfen. "Wir sind Deutschland sehr dankbar, und wir verstehen, dass wir uns an das System anpassen müssen, wenn es manchmal ein wenig länger dauert."

Geflüchtete lassen sich vor allem in Großstädten nieder

Die deutschen Kommunen stoßen immer noch an ihre Grenzen, unter den Geflüchteten kursieren Geheimtipps, welche Städte Anträge im Eilverfahren durchpauken und wo man wochenlang auf eine Antwort warten muss. Vor allem die deutschen Metropolen sind überfordert: Fast die Hälfte der Geflüchteten hält sich nach Angaben des Bundesinnenministeriums in Großstädten auf, in Berlin, Hamburg und München. Städte, welche die Geflüchteten schon vor Kriegsbeginn kannten, wo Freunde oder Verwandte leben und die Chance auf einen Arbeitsplatz größer erscheint.

Deutschland | Geflüchtete Familie aus der Ukraine in Bonn
Natalia, Alexander, Flüchtlingshelferin Narina Karitzky und die vier Kinder in der Wohnung in BonnBild: Oliver Pieper/DW

Natalia und Alexander hat es nach Bonn verschlagen, weil ein Familienangehöriger im nahen Köln einen Job hatte. Sie machen gerade die gleiche Erfahrung, die auch viele Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak 2015 in Deutschland gemacht haben: Wer einen Flüchtlingshelfer und guten Geist an seiner Seite hat, hat es wesentlich einfacher, in Deutschland anzukommen. Jemand wie Narina Karitzky zum Beispiel.

Herausforderung für deutsche Schulen

Die Leiterin der Russischen Schule in Bonn hat die ukrainische Familie unter ihre Fittiche genommen, hilft bei Anträgen, Übersetzung von Urkunden und Telefonaten mit der Stadt. Karitzky wohnt auf der anderen Straßenseite, wenn es bei Natalia und Alexander brennt, ist sie zur Stelle. "Die beiden sind schon ein wenig ruhiger geworden, die Unsicherheit der ersten Zeit, wo sie sich anmelden sollen, wo sie wohnen können, ist weg", sagt sie, "aber sie stehen immer noch ganz am Anfang. Sie können die Sprache nicht und haben natürlich auch noch keine Arbeit."

Jeden Tag melden sich Menschen aus der Ukraine bei der Russischen Schule, die so schnell wie möglich arbeiten wollen. 53 Bewerbungen sind schon bei Karitzky hereingeflattert, sogar aus der Ukraine. Eine Kunstlehrerin und eine Lehrkraft für frühkindliche Pädagogik konnte Karitzky immerhin schon einstellen, ab dem nächsten Schuljahr soll auch Ukrainisch unterrichtet werden.

Narina Karitzky Leiterin Russische Schule Bonn
"Viele ukrainische Geflüchtete müssen lange auf ihre Arbeitserlaubnis warten" - Narina KaritzkyBild: Oliver Pieper/DW

Außerdem hat sie eine Kindertagesstätte aus dem Boden gestampft, für ukrainische Kleinkinder, die keinen Kindergartenplatz bekommen haben. Vor allem Kitas und Schulen sind gerade in Deutschland gefordert: 40 Prozent der Flüchtlinge sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, 92.000 sind bereits an deutschen Schulen angemeldet. "Ein autistischer Junge wird nach unserer Initiative bald in die erste Klasse einer deutschen integrativen Schule gehen", sagt Karitzky.

Spendenbereitschaft nimmt ab

Der gute Geist von Köln heißt Linda Mai. Die Gründerin der deutsch-ukrainischen Hilfsorganisation "Blau-Gelbes Kreuz" ist seit Kriegsbeginn unermüdlich für die Geflüchteten im Einsatz und oberste Kümmerin für die 3500 Ukrainer in der Domstadt. Gerade ist sie wieder auf dem Weg ins Lager im Kölner Süden, wo sich Hilfsgüter für die Ukraine bis an die Decke stapeln. "Der Stress hilft einem, sehr gut schlafen zu können", sagt sie mit einem Lachen.

Deutschland Linda Mai Gründerin Blau-Gelbes Kreuz
"Hundefutter, Kinderwagen und Babynahrung sind nach wie vor sehr gefragt" - Linda MaiBild: Privat

Deutschland ist gerade dabei, in die nächste Phase als Gastgeber der ukrainischen Flüchtlinge einzutreten. Ende Februar und März rollte eine riesige Welle der Hilfsbereitschaft durch das Land, gefühlt packte jede und jeder mit an, um den Geflüchteten zu helfen. Nach der anfänglichen Euphorie hierzulande ist jetzt ein wenig der Alltag eingekehrt, oder, wie Mai beobachtet: "Die Spendenbereitschaft, sei es bei Sach- oder auch bei Geldspenden, hat abgenommen. Bei uns im Lager sind auch weniger Helfer als früher. Die Menschen haben sich irgendwie schon an den Krieg gewöhnt."

Einige Ukrainer wollen nach wie vor zurück

Dazu gehört auch, dass manche Freiwillige merken, dass sie sich vielleicht ein wenig zu viel aufgebürdet haben. Wie die 80-Jährige, die Mai verzweifelt erzählt, dass sie es nicht schafft, für ihre beiden neuen Mitbewohner jeden Tag zu kochen und aufzuräumen. Immer noch schwärmten die Geflüchteten über die Menschlichkeit, Freundlichkeit und Unterstützung, doch einige wollten nach wie vor in die Ukraine zurück. "Der Gegenstand, der mit am meisten nachgefragt wird, ist der Koffer."

Die, die bleiben wollen, bitten Linda Mai vor allem um Notizblöcke und Kugelschreiber - für die Deutschkurse. Es hat sich herumgesprochen, dass Sprache der Schlüssel für eine gelungene Integration ist. In den Sammelunterkünften meldeten sich nicht nur einige wenige, sondern alle Erwachsene für die Sprachkurse an, berichtet sie.

Vertreter von deutschen Unternehmen waren auch schon da, um den Geflüchteten dabei zu helfen, Lebensläufe aufzusetzen und zu schauen, wer schon direkt arbeiten kann. "Einige sind schon als Servicekräfte in Restaurants und Cafés untergekommen", sagt Mai, "und eine Frau, die eine eigene Bäckerei in Odessa betrieben hat, hat vom Fleck weg einen Job in einer deutschen Backstube erhalten."

Ukrainer haben Anspruch auf Grundsicherung

Um die ukrainischen Geflüchteten besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren, hat Deutschland seine Gesetzgebung verändert. Ab dem 1. Juni 2022 haben sie einen Rechtsanspruch auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch und damit Anspruch auf Grundsicherung.

Heißt: mehr Geld, bessere Gesundheitsversorgung, chancenreichere Arbeitsvermittlung im Vergleich zum Asylbewerberleistungsgesetz. Deutschland investiert 3,4 Milliarden Euro, die sich später bezahlt machen sollen.

Hürden für Geflüchtete abbauen

"Das Asylbewerberleistungsgesetz hat den Auftrag, Menschen davon abzuhalten, nach Deutschland zu kommen. Die Unterstützung und Leistungen sind auf einem so niedrigen Niveau, dass die Menschen abgeschreckt werden, hierher zu kommen und einen Asylantrag zu stellen", erklärt Jochen Oltmer die Aufwertung, welche die ukrainischen Geflüchteten erfahren.

Pluspunkt bessere medizinische Versorgung

Oltmer ist Historiker und Migrationsforscher - und entschiedener Gegner des Asylbewerberleistungsgesetzes, das er am liebsten gleich für alle Flüchtlinge in die Mottenkiste packen würde. Es wäre auch ziemlich unpassend für die ukrainischen Geflüchteten - jeder zweite von ihnen hat einen Hochschulabschluss in der Tasche, viele wollen auch in Deutschland in akademischen, technischen oder medizinischen Berufen arbeiten. Oder auch als Pflegekräfte. Eine Win-win-Situation, denn Deutschland sucht gerade dort händeringend nach Personal.

Prof. Dr. Jochen Oltmer
"Wegen der sehr schnellen Reaktion der Zivilgesellschaft verdient Deutschland bei der Aufnahme eine 2" - Jochen OltmerBild: Michael Gründel

Der Migrationsexperte verweist aber auf einen weiteren entscheidenden Unterschied, der den Geflüchteten aus der Ukraine die Integration erleichtern und der oft übersehen wird: "Sie können mit dem Sozialgesetzbuch Leistungen bei Ärzten und Ärztinnen in Anspruch nehmen, die über akute Erkrankungen hinausgehen. Sie dürfen also zum Beispiel Traumata und posttraumatische Belastungsstörungen behandeln lassen."

Sprache Schlüssel bei der Integration

Katheryna Nezhentseva könnte, wenn man so will, als Vorbild dienen, wie Ukrainer hierzulande einen Neuanfang schaffen können und Deutschland gleichzeitig von ihrer Arbeitskraft profitiert. Sie kam bereits vor acht Jahren aus der Ukraine nach Deutschland, hatte schon vorher 17 Jahre als Intensivschwester in Charkiw gearbeitet und ist heute, nach der Anerkennung ihrer Abschlüsse, an einer Klinik in Neuss am Niederrhein angestellt.

Bilderchronik des Krieges in der Ukraine | Deutschland Kateryna Nezhentseva
"Ich habe damals zu Hause geweint und zu meinem Sohn gesagt, ich schaffe das niemals" - Kateryna NezhentsevaBild: Federico Gambarini/dpa/picture alliance

Wenn sie von Geflüchteten gefragt wird, wie man es schafft, im Gesundheitsbereich Fuß zu fassen, sagt sie ihnen: "Ich hatte schon einige Sprachkenntnisse, als ich hier ankam, aber im Rückblick war das schon ein sehr gebrochenes Deutsch. Und die Sprache ist das Schwierigste, Du brauchst als Minimum das B1-Level. Aber alles ist machbar, vor allem, wenn man so viel Unterstützung bekommt wie ich zum Beispiel auf der Station."

Deutsche Sprache, schwere Sprache - viele Fachleute befürchten, dass die Geflüchteten nicht den Weg von Nezhentseva gehen. Und stattdessen Jobs annehmen, in denen weniger Deutschkenntnisse notwendig sind, wie etwa Reinigungsberufe oder Zeitarbeit und dann dort festhängen. Ihr Appell an die Politik: bessere Sprach- und Integrationsangebote, damit die Geflüchteten in Deutschland in ähnlich qualifizierten Bereichen arbeiten können wie in ihrer Heimat.

Müdigkeit macht sich bei den Helfern breit

Seit Kriegsbeginn am 24. Februar sind mehr als 610.000 Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflohen, lautet die jüngste Zahl des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. Schafft Deutschland das? Und vor allem: Schaffen die Ukrainerinnen das? Sieben von zehn Geflüchteten sind Frauen und Mädchen.

Fragt man Oleksandra Bienert, eine der wichtigsten ukrainischen Stimmen in Berlin, wird das vor allem von einem Punkt abhängen: "Die Ukrainer wollen hier nicht nur als Opfer wahrgenommen werden. Unter ihnen sind ja ganz viele Intellektuelle, Experten und Akademiker, und jetzt sind sie auf einmal nur noch Geflüchtete und sonst nichts. Es geht hier um Würde."

Ukraine, Demo Stoppt den Krieg! in Berlin, Oleksandra Bienert
"Es muss schneller und unbürokratischer gehen, wenn am 1. Juni alle Ukrainer zum Jobcenter gehen" - Oleksandra BienertBild: Marc Vorwerk/SULUPRESS.DE/picture alliance

Die gebürtige Ukrainerin lebt schon seit 17 Jahren in Berlin. Man kann ukrainische Filme mit englischen Untertiteln in dem von ihr 2009 gegründeten Kino sehen. Sie gibt Fortbildungskurse für Führungskräfte, um diese für den Umgang mit Geflüchteten zu sensibilisieren, und hat nach der Invasion Russlands forciert, dass sich zehn ukrainische Organisationen in Berlin zu einer Allianz zusammenschließen. Am Hauptbahnhof bekommen alle Geflüchteten einen gelben Flyer mit den wichtigsten Informationen in der Landessprache in die Hand gedrückt.

Wie ist also die Lage der ukrainischen Geflüchteten in Deutschland, im Mai 2022, gute 70 Tage nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine? Bienert, die ihre Mutter nach Berlin geholt hat, während ihr Vater noch in der Ukraine ist, pocht auf mehr Personal in den Beratungsstellen und sagt: "Ich merke das bei allen, bei mir in der Allianz, bei den Ehrenamtlichen, in den deutschen Familien: Es sind alle sehr, sehr müde. Dabei liegt noch ein sehr langer Weg vor uns."

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Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur