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75 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

10. Dezember 2023

Am 10. Dezember 1948 verabschiedet die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Menschenrechtscharta. Die Menschenrechte stehen weltweit mehr denn je unter Druck. Deutschland versucht dagegenzuhalten.

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Eine ältere Dame hält das große Dokument "The Universal Declarations of Human Rights" in den Händen
Treibende Kraft der Charta: Eleanor Roosevelt, Vorsitzende der UN-Menschenrechtskommission und frühere First Lady der USABild: imago images/Everett Collection

Als Annalena Baerbock im April dieses Jahres China besucht, wird ihr schnell klar, dass man für den Schutz der Menschenrechte ganz dicke Bretter bohren muss. Die Außenministerin kritisiert auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit ihrem chinesischen Amtskollegen Qin Gang offen die Menschenrechtsverletzungen an den Uiguren.

Was China am wenigsten brauche, sei "ein Lehrmeister aus dem Westen", antwortet dieser, und überhaupt: Für den Schutz der Menschenrechte gebe es schließlich "keine allgemeingültigen Standards auf der Welt". Doch, kontert Baerbock, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock schaut zu ihrem chinesischen Amtskollegen   Qin Gang, vor beiden Rednerpults stehen Blumen, hinter ihnen die Flaggen Deutschlands und Chinas
Disput über Menschenrechte auf offener Bühne: Annalena Baerbock und Qin Gang am 14.4.2023 in PekingBild: Kira Hofmann/photothek/IMAGO

Acht Monate später sagt die deutsche Außenministerin: "Der universelle Blick steht aus meiner Sicht gerade massiv unter Attacke. Und genau deswegen sind diese universellen Menschenrechte wichtiger denn je." Kritikern, die sagen, jetzt sei nicht die Zeit für einen feministischen Blick und eine wertegeleitete Außenpolitik, sondern für eine pragmatische Interessenpolitik, entgegnet Baerbock: "Als ob das ein Gegensatz wäre, als ob die Menschenrechte Schönwetterpolitik wären, die nur wichtig sind, wenn es sonst keine Probleme gibt."

UN-Menschenrechtserklärung Auftrag für Deutschland

Die deutsche Außenministerin spricht auf einer Veranstaltung der Bundestagsfraktion ihrer Grünen-Partei. Der Anlass ist eigentlich ein Grund zum Feiern. Am 10. Dezember 1948, nur drei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, einigten sich die Vereinten Nationen mit der UN-Resolution 217 erstmals auf grundlegende, für alle Menschen geltende Rechte mit einem denkbar simplen Satz: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gilt als Meilenstein der internationalen Gemeinschaft.

Baerbock für "internationale Verantwortung" in Gaza (Video)

Für Baerbock ist das Dokument 75 Jahre später ein Auftrag deutscher Außenpolitik, gleichzeitig sind die Menschenrechte aber auch akut gefährdet. Und das nicht nur im Nahostkonflikt oder durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Deutschland müsse auch jede Minute dafür sorgen, dass die Situation in Belarus, in Darfur oder auch die Lage der Jesiden nicht in Vergessenheit gerate. Auch Volker Türk, der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, sieht die Menschenrechtscharta unter Druck, verweist in seiner Videobotschaft aber auch auf das, was in den vergangenen 75 Jahren alles vorangebracht wurde:

"Menschenrechte sind zu einem integralen Bestandteil der Regierungsführung und Entscheidungsfindung geworden. Bewegungen wie Black Lives Matter, Me too, Fridays for Future, auch indigener Aktivismus, Feminismus, Frauenproteste haben Personen ermutigt, für ihre Rechte einzustehen und Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Die Gerichte einiger Länder haben sogar Täter zur Rechenschaft gezogen und das Recht auf eine gesunde Umwelt anerkannt."

Die Welt brauche in diesem düsteren Moment eine Vision für die gemeinsame Zukunft, basierend auf Menschenrechten, und müsse sich auf die Suche nach gemeinsamen Lösungen machen, fordert Türk. Statistiken belegen, wie dringend die Forderung nach Lösungen ist.

Geflüchtete, moderne Sklaverei, Hunger, Krieg

Die Zahl der Menschen auf der Flucht ist laut UN-Angaben auf 110 Millionen Menschen gestiegen, 50 Millionen Menschen leben gemäß der Internationalen Arbeits-Organisation (ILO) in moderner Sklaverei und 735 Millionen Menschen gelten als unterernährt, so die Vereinten Nationen. Und über allem schwelt aktuell die Situation in Israel, Gaza und der Ukraine sowie die Folgen der Klimakrise.

"Also das, was wir im Moment erleben, hätte mein Worst-Case-Szenario vor zehn Jahren dramatisch gesprengt, ich hätte das nicht für möglich gehalten. In den letzten Jahren hat es nicht nur Rückschritte gegeben, sondern geradezu Einbrüche. Durch den Vormarsch autokratischer Regime, auch durch Autokratisierungstendenzen innerhalb von etablierten Demokratien", so der Historiker Professor Heiner Bielefeldt.

Der Inhaber des Lehrstuhls für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg sagt der DW: "Der russische Angriffskrieg in der Ukraine ist ein Schlag ins Gesicht der Menschenrechte. Das ist mehr als ein Bruch, es ist die völlige Ignoranz, also die zynische Entsorgung von selbst minimalen Standards im Krieg."

Fortschritte in der Weltjustiz

Bielefeldt lobt, dass der Internationale Strafgerichtshofin Den Haag, der schweren Menschenrechtsverbrechen nachgehen soll, mit dem internationalen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin genau die richtige Antwort gegeben habe.

Und Deutschland? Ein internationales Monitoring hat das Land bei den Menschen- und Freiheitsrechten wegen seines rigiden Umgangs mit Klimaschützern jüngst von "offen" auf "beeinträchtigt" zurückgestuft. Es sei allerdings auffällig, wie Deutschland international mit Initiativen versuche, die Strukturen des internationalen Menschenrechtsschutzes, die massiv unter Druck seien, zu stärken, sagt der Menschenrechts-Experte:

"Deutschland hat sich auch in Sachen Weltstrafjustiz sehr engagiert. Der erste weltweite Prozess gegen Staatsfolter in Syrien fand in Koblenz auf deutschem Territorium statt, unter Anwendung des Weltstrafprinzips, wonach ein deutsches Gericht verhandeln kann, obwohl weder die Täter noch die Opfer Deutsche sind."

Ein Mann im blauen Sakko und lila Hemd mit Brille und Bart lächelt in die Kamera
Professor Heiner Bielefeldt: "Wir müssen das Bewusstsein für Menschenrechte immer wieder neu verankern"Bild: Harald Sippel

Wertegeleitete Außenpolitik, um Menschenrechte zu schützen

Das Oberlandesgericht verurteilte den Hauptangeklagten im Januar 2022 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 27-fachem Mord, Vergewaltigung und Freiheitsberaubung zu lebenslanger Haft. Ein Puzzleteil aus der wertegeleiteten Außenpolitik, welche die Außenministerin für Deutschland etablieren will.

In geopolitisch so herausfordernden Zeiten sei diese wichtiger denn je, denn sie bedeute gerade nicht, sich bequem zu isolieren und nur noch mit moralisch vermeintlich einwandfreien Demokratien zu sprechen, sagte Baerbock auf der Tagung zur Menschenrechtscharta. Für Heiner Bielefeldt wartet auch in Zukunft eine riesige Herausforderung auf Deutschland:

"Die Strukturen zu schützen, die zu erodieren drohen, die drohen, zerfleddert zu werden und mit dem Abrisshammer zerschlagen zu werden. Da geht es nicht mehr nur um Menschenrechtsverletzungen hier und dort oder Regelverletzungen im humanitären Völkerrecht, sondern es geht darum, dass ein ganzes internationales Regelwerk, das sich über Jahrzehnte entwickelt hat, zerstört zu werden droht."

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur