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75 Jahre Grundgesetz - die Verfassung im Wandel der Zeit

22. Mai 2024

Das Grundgesetz von 1949 wurde oft geändert und galt bis zur Deutschen Einheit nur im Westen. Besonders umstritten: Bundeswehr-Gründung und Asylrecht-Reform.

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Auf einer Glaswand im Berliner Regierungsviertel steht ein Auszug aus Artikel 3 Grundgesetz: "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden."
Die im Grundgesetz verankerten Grundrechte, darunter der Artikel 3, kann man direkt neben dem Deutschen Bundestag auf Glaswänden lesen Bild: Karl-Heinz Sprembe/picture alliance

"Die Würde des Menschen ist unantastbar" - so beginnt Artikel 1 des Grundgesetzes. Dieser erste Satz der Verfassung entstand unter dem Eindruck der beispiellosen Schuld, die das nationalsozialistische Deutschland auf sich geladen hatte. Es war verantwortlich für den Zweiten Weltkrieg von 1939 bis 1945 und die Ermordung von sechs Millionen Menschen jüdischen Glaubens in ganz Europa.

1949: Das Grundgesetz wird beschlossen

Als das Grundgesetz am 23. Mai 1949 verkündet wurde, galt es allerdings nur für die am selben Tag gegründete Bundesrepublik Deutschland. Sie entstand aus den drei Besatzungszonen der westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs: USA, Großbritannien und Frankreich. Im Osten befand sich die Sowjetische Besatzungszone (SBZ). Daraus wurde am 7. Oktober 1949 die Deutsche Demokratische Republik (DDR), die in Wirklichkeit eine von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) regierte Diktatur war. 

Die Mütter (4) und Väter (61) des Grundgesetzes betrachteten ihr Werk angesichts der deutschen Teilung als Provisorium. Daran wird anlässlich des 75-jährigen Jubiläums der deutschen Verfassung oft erinnert, unter anderem vom Potsdamer Historiker Martin Sabrow bei einer Veranstaltung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur: "Das sollte gerade keine Verfassung auf Dauer sein, sondern ein Übergangszustand, bis das deutsche Volk in seiner Gesamtheit sich hätte frei entscheiden können."

Tausende Menschen feiern am 3. Oktober 1990 vor dem Berliner Reichstagsgebäude mit Deutschland-Fahnen und Feuerwerk die Wiedervereinigung des seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs geteilten Landes.
Seit dem Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990, der mit einer großen Feier vor dem Reichstagsgebäude in Berlin eingeläutet wurde, gilt das Grundgesetz in ganz DeutschlandBild: Jörg Schmitt/dpa/picture alliance

1990: Verfassung für das wiedervereinte Deutschland

Der historische Moment dafür hätte die deutsche Wiedervereinigung 1990 sein können, nachdem die Menschen in der friedlichen Revolution die Berliner Mauer und das DDR-Regime zum Einsturz gebracht hatten. Eine neue Verfassung wurde dann aber doch nicht beschlossen.

"Zwar wurde eine Debatte über eine gesamtdeutsche Verfassung initiiert, aber diese Idee war in Deutschland nicht mehrheitsfähig", erläutert die Politikwissenschaftlerin Astrid Lorenz von der Universität Leipzig. "Der wesentliche Grund lautete: Das Grundgesetz hat sich bewährt, eine neue Verfassung ist unnötig. Man wollte Stabilität."

1956: Bundeswehr und Verteidigungsfall

Auch wenn keine neue Verfassung ausgearbeitet wurde, ist das Grundgesetz über die Jahrzehnte fast 70 Mal geändert worden - ausgelöst durch tiefgreifende gesellschaftliche und geopolitische Veränderungen. Besonders umstritten war die Wiederbewaffnung, einhergehend mit dem Beitritt zum Nordatlantischen Verteidigungsbündnis (NATO). Dafür wurde 1956 das Grundgesetz mehrfach geändert, um die Bundeswehr aufstellen zu können und bei einem Angriff den sogenannten Verteidigungsfall verfassungsrechtlich abzusichern.

Bundeskanzler Konrad Adenauer besucht 1956 in der Garnisonstadt Andernach die neuen deutschen Streitkräfte, die uniformiert in Reih und Glied stehen
Der christdemokratische Bundeskanzler Konrad Adenauer (Mitte links im dunklen Mantel) 1956 beim Antrittsbesuch in der Garnisonstadt Andernach am Rhein Bild: Alfred Hennig/dpa/picture alliance

1968: Einschränkung von Grundrechten in Notsituationen

Gravierende Änderungen brachten auch die 1968 beschlossenen sogenannten "Notstandsgesetze" mit sich. Damit sollte die staatliche Handlungsfähigkeit in Krisensituationen gewährleistet werden. Gemeint sind damit vor allem Naturkatastrophen, Aufstände und Kriege. Diese Verfassungsänderung ermöglichte unter anderem den Einsatz der Bundeswehr im Inland und die Einschränkung von Grundrechten. In Notsituationen ist auch die heimliche Überwachung von Kommunikation erlaubt.

1993: Asylrecht wird eingeschränkt

Drei Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurde 1993 das Asylrecht stark beschnitten, das Grundgesetz verändert. Auslöser waren die sprunghaft gestiegenen Anträge auf politisches Asyl, die zu massiven gesellschaftlichen Spannungen und einem Erstarken des Rechtsextremismus führten. Seit der Reform ist es möglich, Menschen ohne deutschen Pass in Länder abzuschieben, die als "sichere Herkunftsstaaten" eingestuft werden. Zuletzt wurden Georgien und Moldau in diese Liste aufgenommen.

2009: Schuldenbremse gegen Staatsverschuldung

Um die Staatsverschuldung zu begrenzen, wurde 2009 die sogenannte "Schuldenbremse" eingeführt und in das Grundgesetz aufgenommen. Dadurch wird die jährliche Kreditaufnahme stark limitiert. Ausnahmen sind nur bei Naturkatastrophen wie im Ahrtal oder einer unvorhersehbaren Krise wie der Corona-Pandemie erlaubt. 2023 hatte die Bundesregierung die Schuldenbremse nach dem Ausbruch des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine ausgesetzt. Finanziert werden sollte ein Sondervermögen, um Hilfen für das angegriffene Land und vor allem Rüstungsanschaffungen finanzieren zu können. Da Deutschland auch 2024 unter Wirtschaftsproblemen und einem Investitionsstau leidet, fordern inzwischen viele eine generelle Lockerung der Schuldenbremse.

Auf der Schuldenuhr des Bunds der Steuerzahler sind drei rot leuchtende Zahlenreihen zu sehen, die sich ständig verändern. Angezeigt wird die Staatsverschuldung Deutschlands, die Veränderung pro Sekunde in Euro und die Schulden pro Kopf.
Trotz der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse: Deutschland verschuldet sich weiterhin, wenn auch nicht mehr so stark wie früherBild: Dirk Sattler/IMAGO

Verfassungsänderungen nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit

Für jede Änderung des Grundgesetzes gilt: Sie ist nur möglich, wenn zwei Drittel der Abgeordneten des Deutschen Bundestages und der Länderkammer (Bundesrat) zustimmen. Damit soll verhindert werden, dass die Verfassung zum Spielball tagespolitischer Erwägungen wird. Vor allem aber geht es darum, die Demokratie vor potenziellen Feinden zu schützen. Die hätten es recht leicht, wenn sie mit einfacher Mehrheit Verfassungsänderungen beschließen könnten. So könnte das Rechtsstaatsprinzip schnell ausgehebelt werden.

Insgesamt hat sich das immer wieder geänderte Grundgesetz in den 75 Jahren seines Bestehens bewährt - darin sind sich Fachleute aus Politik und Wissenschaft weitgehend einig. Die deutsche Verfassung hat auch international einen guten Ruf und diente vielen Ländern mit Diktatur-Vergangenheit als Vorbild. Auch ist das Grundgesetz bei den Deutschen recht beliebt. Das ist das Ergebnis einer Studie des Mercator Forums für Migration und Demokratieder Universität Dresden: 81 Prozent der Befragten sind der Meinung, das Grundgesetz habe sich bewährt. Nur sechs Prozent verneinen das. 

Keine Bezüge zur friedlichen Revolution in der DDR

Der in der DDR geborenen Politikwissenschaftlerin Astrid Lorenz stellt sich trotzdem immer wieder die Frage: "Wurden in der Verfassungsdebatte im Zuge der Deutschen Einheit denn nun Lehren gezogen?" Aus ihrer Sicht lässt sich das ganz klar beantworten: "Im Grundgesetz befinden sich kaum Bezüge zur ostdeutschen Geschichte und zur friedlichen Revolution."

Die Direktorin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Anna Kaminsky, wünscht sich ganz grundsätzlich einen weiter gefassten Blick auf das Grundgesetz: "Das Datum sollte auch ein Anlass sein, daran zu erinnern, dass es immer wieder mutige Menschen in der sowjetisch besetzten Zone und der DDR gab, die ihre Existenz oder gar ihr Leben riskierten, um die im Westen geltenden Rechte und Freiheiten auch für den östlichen Teil Deutschlands einzufordern."

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland