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PolitikIsrael

75 Jahre Israel: Vom Traum zur zerrissenen Gegenwart

24. April 2023

Vor 75 Jahren wurde der moderne Staat Israel gegründet. Für viele eine Erfolgsgeschichte und eine Erlösung. Doch in diesem Jahr ist das Gedenken so politisch wie nie.

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Einen Fahnenmeer der israelischen Flagge, mittendrin ein Bild des Gemäldes der Schrei, ein Mann ohne Haare mit aufgerissenem Mund und erschreckten Augen
Dieses Jahr dürften am Unabhängigkeitstag besonders kritische Töne zu vernehmen seinBild: Eyal Warshavsky/SOPA Images via ZUMA Press Wire/picture alliance

Traditionell beginnt die israelische Gedenkfeier zur Staatsgründung mit dem Anzünden von zwölf Fackeln auf dem Herzl-Berg in Jerusalem. Sie symbolisieren die 12 Stämme, die in der Bibel das Volk Israel bilden. In diesem Jahr werden die Feierlichkeiten überschattet von dem Protest hunderttausender Israelis gegen die Justizpläne ihrer Regierung. Es ist eine der größten Krisen in der durchaus krisenreichen Geschichte des Landes.

Gegründet wurde Israel am 14. Mai 1948 des gregorianischen Kalenders. Weil sich der Feiertag nach dem jüdischen Kalender richtet, beginnt er in diesem Jahr in Israel am Abend des 25. April.

Im Grunde wurde Israel schon inmitten einer Krise geboren. Als David Ben-Gurion den Staat Israel proklamierte, befanden sich die jüdischen Bewohner des Heiligen Landes bereits seit Monaten im Bürgerkrieg mit ihren arabischen Nachbarn.

Viele Juden und Jüdinnen weltweit empfanden die Ausrufung ihres eigenen Staates – nur drei Jahre nach dem Holocaust – wie eine Erlösung. "1948 steht sehr eng mit 1945 in Verbindung. Das heißt also, auf der einen Seite haben wir das Ende des europäischen Judentums, das mit der Zeit-Ikone 1945 ganz klar markiert ist, und drei Jahre später die Gründung des Staates Israel, das sozusagen die Erlösung dieser Vernichtung ist", sagt der israelische Soziologe Natan Sznaider im Gespräch mit der DW. "Das war wie eine Auferstehung. Das ist, denke ich, ein Narrativ, das nicht nur offiziell, sondern von den meisten Israelis mitgetragen wird - also die Staatsgründung als ein fast schon theologischer Befreiungsakt."

Auf einem Schwarz weiß Foto ist stehend David Ben Gurion zu sehen, neben ihm sitzen zahlreiche Männer, hinter ihm ein Portrait Theodor Herzl und die israelische Flagge
Mai 1948: David Ben-Gurion (stehend) verkündet in Tel Aviv die Unabhängigkeit des Staates IsraelBild: AFP/dpa/picture-alliance

Sechs Millionen Juden waren im Holocaust brutal ermordet worden: in Ghettos zusammengepfercht, verhungert, erschossen, in deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern getötet: ein präzedenzloser Genozid. Das bis dahin unvorstellbare Verbrechen aber öffnete auch ein womöglich einmaliges historisches Zeitfenster. 1947 beschloss die UN-Generalversammlung – bei 13 Gegenstimmen – einen Teilungsplan für Palästina, bis dahin noch britisches Mandatsgebiet. Dieser sah die Gründung eines jüdischen und eines arabischen Staates vor. Jerusalem sollte unter internationalem Sonderregime stehen. Die arabische Seite lehnte ab, jüdische Vertreter aber stimmten zu. Es folgte ein Bürgerkrieg mit Gewalt auf beiden Seiten.

Utopie eines eigenen Staates

Obwohl der Holocaust ein ausschlaggebendes Momentum war, ist die Idee einer jüdischen Heimstätte wesentlich älter. Der bekannteste Vertreter der zionistischen Idee ist Theodor Herzl. 1896 schrieb Herzl, unter dem Eindruck eines zunehmenden Antisemitismus vor allem in Frankreich, das Buch "Der Judenstaat" und widmete sich darin auch ganz praktischen Ideen für die Gründung eines Staates.

Herzl lotete zu Beginn auch alternative Möglichkeiten zu Palästina aus, wogegen aber andere Vertreter der zionistischen Bewegung von Anfang an rebellierten. Sie erinnerten an die jahrtausendealte Verbindung des jüdischen Volkes zu Eretz Israel, dem gelobten Land der Bibel. In Jerusalem stand bis zur Zerstörung durch die Römer der jüdische Tempel – das Zentrum des antiken Judentums . "Die Juden sind nach zionistischer Auffassung in erster Linie ein Volk, eine Nation und keine Religion, und so wie andere Nationen verdienen auch sie demnach ihr Heimatland und ihre staatliche Souveränität", erklärt der Historiker Michael Brenner, Direktor des Center for Israel Studies an der American University in Washington, D.C.

Man sieht eine Aufnahme in Sepia, mehrere Gebäude, viele hell in der Mitte eine aschige Straße
Tel Aviv im Jahr 1915, sechs Jahre nach der Gründung der StadtBild: World History Archive/picture alliance

Diplomatisch gelang den Zionisten 1917 der Durchbruch mit der Balfour-Deklaration, in der die Briten versprachen, sich für eine "nationale Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina" einzusetzen. Allerdings: Die Erklärung wurde bewusst vage gehalten, die Briten machten auch den Arabern in Palästina Hoffnungen auf einen eigenen Staat und trugen als Mandatsmacht so im Endeffekt zu den Spannungen in der Region bei. Es folgten mehrere große jüdische Einwanderungswellen ins Mandatsgebiet Palästina, häufig als Reaktion auf antisemitische Verfolgungen in Europa. 1909 wurde am Mittelmeer die Stadt Tel Aviv gegründet.

Die Briten versuchten immer wieder, die Einwanderungen zu unterbinden, sogar in der größten Not der Juden und Jüdinnen nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland.

Ein Land, zwei Völker

Bereits seit den frühen 1920er Jahren kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern im Mandatsgebiet Palästina, etwa in Jaffa und Jerusalem. "Das Grundproblem ist natürlich, dass zwei Völker den Anspruch auf das gleiche Land haben und beide diesen Anspruch historisch begründen", sagt Brenner.

Nach der Ausrufung des Staates Israel erklärten fünf arabische Armeen dem jungen Land den Krieg. Israel gewann und eroberte rund 40 Prozent des von der UN für die Palästinenser vorgesehen Landes. Als Folge des Krieges, aber auch schon davor, kam es zur Vertreibung und Flucht von rund 700.000 Palästinensern, ins palästinensische Narrativ eingegangen als Nakba, als Katastrophe.

Schwarz weiß Aufnahme von Kämpfern mit Waffen in der Hand vor einem zerstörten Lastwagen
Der erste israelisch-arabische Krieg dauerte bis zum Juli 1949Bild: CPA Media Co. Ltd/picture alliance

1967 veränderte ein weiterer Krieg das Machtverhältnis: Israel hält seitdem das Westjordanland sowie Ost-Jerusalem besetzt, blockiert weitgehend den Gaza-Streifen. International wird Israel für die Besatzungspolitik kritisiert, viele Regierungen, auch die deutsche, betrachten die israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten als Bruch des Völkerrechts.

In den 1980er Jahren etablierte sich in Israel eine Generation sogenannter Neuer Historiker, die, wie Brenner es formuliert, "die heiligen Kühe, die es gab, diese Grundwahrheiten, die das offizielle Israel geprägt hatten, in Frage stellten." Dazu zählte auch die Thematisierung der Folgen der Staatsgründung für die Palästinenser – bis heute ein heikles und häufig missachtetes Thema in Israel.

Zurück zur ursprünglichen Idee

"Es wird der politischste Unabhängigkeitstag sein, den es wahrscheinlich in der Geschichte Israels je gegeben hat" sagt Sznaider. Seit Wochen gehen Hunderttausende in Israel auf die Straße, um gegen einen geplanten Umbau der Justiz zu demonstrieren. Die Pläne liegen zwar im Moment auf Eis, die Proteste reißen dennoch nicht ab.

Aktuell gibt es Überlegungen der Demonstranten, eine Fackel-Zeremonie in Tel Aviv alternativ zu der in Jerusalem abzuhalten – als Zeichen, dass sie sich von der aktuellen rechts-religiösen Regierung nicht repräsentiert fühlen, eine andere Zukunft für ihren Staat anstreben.

 "Es wird zwei Unabhängigkeitstage gleichzeitig geben", sagt Sznaider. Dabei sehen sich pikanterweise beide Seiten in der Tradition der Gründerväter und -mütter Israels. Schon immer gab es unter Zionisten auch religiöse Zionisten. Die heutige Siedlerbewegung in den besetzten Gebieten sieht sich auch in der Nachfolge der Besiedlung des Landes in den 1920er Jahren. "Sie versuchen, sich als eine Art Superzionisten darzustellen, die versuchen, die Pläne der ursprünglich säkularen, auch linksgerichteten, sozialdemokratisch geprägten zionistischen Bewegung zu vollenden", sagt Historiker Brenner.

Auf der Seite der Demonstranten sieht man das naturgemäß völlig anders. Die Demonstranten beziehen sich jede Woche ganz bewusst auf die Gründungsideen des jüdischen Staates: schwenken die Fahne, berufen sich auf die Unabhängigkeitserklärung.

Ein Meer aus Israel Fahnen ist zu sehen mit vielen Menschen, im Hintergrund mehrere Gebäude
Bei den Demonstrationen, die seit Monaten anhalten, kommen zeitweise über 200.000 Menschen zusammenBild: Ilan Rosenberg/REUTERS

Sie pochen auf die demokratischen Ursprünge Israels, auf ein freies, rechtsstaatliches Land für alle seine Bürger. Oder wie es der Historiker Tom Segev in einem Spiegel-Interview ausdrückte: "David Ben-Gurion wäre vermutlich außer sich", wenn er wüsste, an welchem Punkt sich die israelische Gesellschaft gerade befindet.

Für den Historiker Michael Brenner werden in Israel aktuell auch die alten Spannungen ausgetragen, die es innerhalb der zionistischen Bewegung schon immer gegeben hat. "Ich würde schon sagen, dass viele der Spaltungen der israelischen Gesellschaft von Anfang an angelegt waren, und vielleicht ist es ein kleines Wunder, dass es 75 Jahre gedauert hat, bis diese so stark aufbrechen."

Bei jeder Demonstration singen die Demonstranten die Hatikva, die israelische Hymne. "Eine Strophe der israelischen Nationalhymne besagt, ein freies Volk in seinem eigenen Land zu sein", sagt Sznaider. "Aktuell gibt aber zwei verschiedene Definitionen, was das bedeutet: ein freies Volk in seinem eigenen Land zu sein."