Ach, Neuschwanstein!
17. August 2016Die grünen Hügel des Allgäus heben und senken sich. Alte Bäume säumen den Weg, dazwischen schimmert ein See. Im Hintergrund das Alpenmassiv. Dann passiert es: Plötzlich wachsen Zinnen aus den Felsen empor, und im nächsten Moment zeichnet sich vor den Berghängen eine Silhouette von Dächern und Türmen ab. Wie eine Opernkulisse, rank und schlank, verwegen steil und weiß wie Puderzucker balanciert es über dem Abgrund - Schloss Neuschwanstein. Wenn es einen Sehnsuchtsort in Deutschland gibt, dann ist es dieser. Jedes Jahr kommen 1,5 Millionen Touristen. Mindestens die Hälfte davon reist aus dem Ausland an.
Symbol für Europa
Um halb neun ist der Hof bereits voller Touristen. Ein thailändisches Brautpaar posiert vor dem Schlosspanorama. Mehrere amerikanische Gruppen haben schon Karten. Faryn Tate kommt aus Los Angeles. "Ich bin hier, weil ich Disney-Fan bin", sagt sie. "Ich kenne die Schlösser aus den Parks, und jetzt will ich das Schloss sehen, das ihn inspiriert hat." Ihn, damit meint sie den US-Trickfilmmacher und Vergnügungsparkbauer Walt Disney.
Schlossverwalterin Katharina Schmidt weiß zu erzählen, dass viele Amerikaner Probleme damit haben, Original und Kopie auseinanderzuhalten. "Sie kommen hierher und sagen: "Ach, das haben sie von Disney abgeguckt." Und dann sagen wir: "Nein, umgekehrt. Walt Disney war hier und hat Neuschwanstein als Vorbild genommen." Die größte Gruppe sind aber nicht die US-Amerikaner, sondern die Chinesen. Im vergangenen Jahr haben sie die Japaner abgelöst. "Ich bin nur für das Schloss gekommen", sagt Jiangchuan He (16) aus der Nähe von Shanghai. "Das hier ist weltberühmt. Ich glaube, die meisten Chinesen kennen es. Es ist für uns ein Symbol für Europa."
Schlossbesichtigung im Minutentakt
Neun Uhr, die Schranken öffnen sich, die erste US-amerikanische Gruppe wird aufgerufen. Dies geschieht per Nummer auf einer elektronischen Anzeigetafel. In der Hochsaison, im Juli und August, werden bis zu 7000 Menschen am Tag durchgeschleust. Das gelingt nur, weil alles straff organisiert ist. Zumal Neuschwanstein eigentlich nicht für Besucher zugeschnitten wurde: "Bewahren Sie mir diese Räume als Heiligtum - lassen Sie sie nicht entweihen von Neugierigen!", schärfte der menschenscheue Ludwig seinen Vertrauten ein. Er wollte die Anlage nur für sich - als Fluchtburg, als Gegenwelt zu den unromantischen Mächten der Moderne.
Doch nur sechs Wochen nach seinem geheimnisumwitterten Ableben im Starnberger See 1886 wanderten die ersten zahlenden Besucher hindurch. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Schloss endgültig zur Tourismus-Ikone aufgebaut. "Jetzt haben wir so viele Besucher wie noch nie", sagt Ines Holzmüller von der Bayerischen Schlösserverwaltung. Das Anwesen gehört dem Land Bayern. Das ließ "Neuschwanstein" als Marke schützen.
"Hello, my name is Christian", stellt sich der junge Schlossführer der Besuchergruppe mit Vornamen vor. Es folgt ein kurzer Abriss über das Leben von Ludwig II. "Er starb unter mysteriösen Umständen, gerade einmal 40 Jahre alt." Ein langes "Ooooooh..." ist die Antwort. Es gibt nicht viele Räume zu besichtigen. Denn lange bevor der König sein Schloss fertiggestellt hatte, ließ ihn die bayerische Regierung für verrückt erklären. Das ist heute einerseits schade, andererseits ein Segen. So schaffen die Führer ihre Touren in einer knappen halben Stunde. Und die wenigen Zimmer sind spektakulär.
Schwelgen und Schweigen
Ludwigs Anspruch ging ins Höhere: Das Schloss sollte die Opern Richard Wagners (1813-1883) und die ihnen zugrundeliegende deutsche Sagenwelt in Architektur übersetzen. Die Wandmalereien feiern die Welt Tannhäusers und Lohengrins, es wimmelt von Schwänen und Hünen, und all das in leuchtenden Farben und mit extra viel Gold. Ludwig liebte den rauschhaften Überschwang, die Prachtentfaltung. Die US-Touristen sind so beeindruckt, dass sie flüstern. Kein lautes Wort, kein Verstoß gegen das Fotografierverbot. Ab und zu hört man ein gedämpftes "Wow". Beim Betreten des königlichen Schlafzimmers entfährt einer Frau der Ausruf: "Schau dir das an - das nenne ich ein Prinzessinnen-Zimmer!" Eine andere seufzt: "Wer würde hier nicht wohnen wollen?"
Bizarr wirkt die künstliche Tropfsteinhöhle, die der König in den 1880er Jahren bereits mit farbigem elektrischem Licht ausstatten ließ. "Ich will auch eine Grotte, wenn wir wieder zuhause sind", sagt die Frau, die auch schon das "Prinzessinnen-Zimmer" so schön fand. Ihr Mann zieht es vor, zu schweigen. Kurz danach endet die Führung. Einige Teilnehmer greifen im Souvenirshop zum Plüsch-Schwan oder zum 1000-teiligen Puzzle. Dann hat man sich einen Cappuccino verdient.
Übertrieben ja, aber nicht kitschig
Reiseleiter Gilles Chavet kommt aus Paris. Findet er Neuschwanstein nicht kitschig? "Kitschig - nein! Es ist exotisch, extravagant, übertrieben. So etwas haben wir in Frankreich nicht, da ist alles klassisch streng. Das hier ist eine wilde Fantasie." Schüler Joseph Weaver aus der kanadischen Provinz Ontario ist auf Abschlussfahrt. Stört es ihn nicht, dass Neuschwanstein ein Trugschloss ist, weil es eine Ritterburg vorgaukelt, aber erst 130 Jahre alt ist? Joseph macht eine wegwerfende Handbewegung: "Kanada ist gerade einmal 150 Jahre alt. Für uns ist das Schloss hier alt."
Bobbie Zemanek aus dem US-Staat New Mexico wandelt mit ihrem Mann Kelly White auf den Spuren deutscher Vorfahren: Könnte ihr ein anderer Ort nicht mehr über das Land erzählen? "Ich glaube, dieses Schloss steht in mehrfacher Hinsicht für Deutschland", antwortet sie wohlüberlegt. "Es steht für den Zauber, für das Mysteriöse. Ich denke an Grimms Märchen."
Deutsche Touristen geben sich distanzierter
Die einzigen, die nicht ins Schwärmen geraten, sind die Deutschen. "Alle wollen doch hierhin, da muss man es einfach mal gesehen haben", sagt Indra Grönke aus Oyten bei Bremen, die mit Mann und zwei Töchtern angereist ist. Das Traumziel liegt wohl zwangsläufig nicht vor der Haustür, es wird in die Ferne projiziert. Für Deutsche kann es das Empire State Building in New York sein oder der Taj Mahal in Indien, aber kein Schloss in Bayern.
Verwalterin Schmidt hat ihr Büro in der Kemenate - "der schönste Arbeitsplatz Deutschlands", wie sie sagt. "Der Schlüssel zum Verständnis der weltweiten Faszination ist die Sache mit dem Märchenschloss", erklärt sie. "Jedes Kind wächst mit einem bestimmten Bild von einem Königsschloss auf - und das ist dieses."
Spät am Abend, es geht auf Mitternacht. Die Touristen sind fort. Still und dunkel ist es jetzt. Flutlichtscheinwerfer hüllen Neuschwanstein in ein silbernes Kleid. Zu dieser vorgerückten Stunde mag das Schloss wieder so sein, wie der König es sich vorgestellt hat: den Blicken der Massen entzogen, menschenleer und unnahbar. Selbst Skeptiker müssten wohl sagen: ein Traumbild.