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PolitikAsien

"Dialog mit Taliban nötig und richtig"

8. Juni 2022

Zur Wahrung eigener Interessen und Werte muss der Westen mit den Taliban im Gespräch bleiben, argumentieren zwei deutsche Experten.

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Afghanistan | Verteidigungsminister Mullah Mohammad Yaqoob
Der amtierende Verteidigungsminister der Taliban-Regierung, Mullah Mohammad, Yaqoob, auf einer Gedenkveranstaltung zum Todestag seines Vaters, des Taliban-Mitgründers und -Führers Mullah Mohammad Omar Bild: Ali Khara/REUTERS

Seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 ringen die westlichen Staaten um eine angemessene Politik gegenüber dem neuen Regime. Einerseits will man ihm durch offizielle Anerkennung keine Legitimität verleihen, andererseits sucht man Gesprächskanäle, etwa um Rahmenbedingungen für humanitäre Hilfe zu schaffen.

Dass der Westen den Kontakt zu den Taliban trotz aller Vorbehalte gegen deren Politik, insbesondere was Frauenrechte angeht, nicht abreißen lässt, sei richtig, sagt Conrad Schetter, Ko-Autor mit Katja Mielke des soeben erschienenen Buchs "Die Taliban. Geschichte, Politik, Ideologie". Auch geopolitisch sei das Land, zwischen Zentral- und Südasien und China gelegen, zu bedeutend, als dass es sich dauerhaft ignorieren ließe. Pakistan, China und arabische Mäzene versuchten, auf die Taliban Einfluss zu nehmen, mit jeweils eigenen Interessen. In diesem Kontext, erwarten Schetter und Mielke, werde auch Europa eine Annäherung an die Taliban suchen: "Allein, um deutlich zu machen, dass nicht alles, was an zivilem Aufbau in den letzten zwanzig Jahren in Afghanistan stattgefunden hat, umsonst gewesen ist."

Conrad Schetter | Professor am Bonn Internationl Centre for Conflict Studies
Conrad Schetter, Professor am Bonn International Centre for Conflict Studies, warnt vor Klischeevorstellungen im Umgang mit den Taliban Bild: bicc

Allerdings stehe der Westen vor einem Problem: "Man hat erst wenig verstanden, welche unterschiedlichen Strömungen es innerhalb der Taliban gibt und wie darum mit der Bewegung als ganzer umzugehen ist", so Schetter im Gespräch mit der DW. Rigorose Islamisten stünden Moderaten gegenüber, die etwa ihre Töchter möglichst auf gute Schulen schicken wollten und zum Ziel hätten, das Land in Kooperation mit den Nachbarstaaten und der internationalen Gemeinschaft zu entwickeln. Auch fordere die jüngere Generation der Taliban die ältere heraus, entsprechende Machtkämpfe prägten die Organisation. Und diejenigen, die gegen jegliche Zusammenarbeit mit dem Westen seien, wendeten sich dem IS-K ("Islamischer Staat" in Chorasan) zu, dem regionalen Ableger der Terrororganisation "Islamischer Staat". 

"Verschwommene Strukturen und Ziele"

Tatsächlich seien die Taliban eine komplexe Bewegung, von deren typischen Figuren in der westlichen Vorstellung - den "vorzeitlich anmutenden Kämpfern" und dem "hinterwäldlerischen Mullah" - man sich nicht täuschen lassen solle, schreiben Schetter und Mielke. Die Taliban hätten sich während des vergangenen Vierteljahrhunderts kontinuierlich entwickelt, auch in der Kriegführung, der militärischen ebenso wie der psychologischen. Zwar sei es ihnen noch nicht gelungen, eine Gruppe aus Kämpfern in eine politische Partei mit geordneten Prozessen und einer konkreten Vision zu verwandeln. Die Konturen und die innere Struktur der Bewegung seien verschwommen und von außen vielfach nicht einsichtig.

Afghanistan Alltag in Kabul
Trauerfeier am Todestag des Mitgründers und Führers der Taliban, Mullah Mohammad OmarBild: Ali Khara/REUTERS

Eines sei aber festzustellen: Die Taliban sind im Gebrauch ihrer Mittel, sei es bei der Kommunikation nach außen, sei es beim Einsatz von Gewalt, ebenso flexibel wie bei der konkreten Umsetzung ihrer Gesetze und Regeln. Insofern konstatieren die Autoren: "Sie erscheinen eher als ein rationaler und vor allem pragmatischer Akteur denn als ein ideologiegetriebenes Monster."

Meister der Kommunikation

Beispiel Medieneinsatz: Die Taliban sahen sehr schnell die Chancen der digitalen Kommunikation, die sie sich nach ihrer ersten Machtübernahme Afghanistans 1996 umgehend zunutze machten. Mit Videos und gesprochenen Botschaften erreichten sie weite Teile der Bevölkerung, auch jene, die nicht lesen und schreiben konnten. Ihre Webseite "Al Emarah" erschien in fünf Sprachen, neben Englisch auf Paschtu, Arabisch, Dari und Urdu.

Auch aus dem Untergrund erwiesen sie sich als geübte Kommunikatoren. Von etwa 2012 an, als die USA bereits begannen, ihren Militäreinsatz herunterzufahren, hätten die Taliban darauf verzichtet, Zahlen über Getötete und Verletzte bei Kampfhandlungen zu unter- oder übertreiben, berichten Schetter und Mielke nach Auswertung diverser Studien. Damit unterschieden sich ihre Zahlen von denen der afghanischen Regierung und der NATO respektive der USA, die ihre Opferzahlen zumeist aufgrund von Hochrechnungen und nicht wie die Taliban vor Ort ermittelt hätten. Damit erwiesen sich die Taliban in den Augen vieler Afghanen als verlässliche Quelle, was ihnen half, das Vertrauen eines Teils der Bevölkerung zu gewinnen oder zu vertiefen.

Afghanistan | Opiumanbau in der Jalalabad-Provinz
Opiumanbau: Von den Taliban offiziell verboten, in der Praxis geduldetBild: Rahmat Gul/AP/picture alliance

In der Drogenpolitik der Taliban zeigt sich deren flexible Handhabung der eigenen Grundsätze: Seit 2001 hielten die Taliban daran fest, den Drogenkonsum aus religiösen Gründen zu verurteilen. Das hinderte sie nicht, am Opiumanbau weiter zu verdienen. Zugleich war ihnen klar, dass zahllose Kleinbauern etwa in der Region Helmand durch die Zerstörung des Opiumanbaus in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht waren. Also wandten sie sich gegen die Drogenvernichtungsprogramme der USA und Großbritanniens. Das gleiche spielte sich beim Anbau von Cannabis ab: Prinzipiell und religiös begründet wurde er verboten, was aber nicht umgesetzt wurde. Nach ihrer Machtübernahme im August 2021 benutzten die Taliban das Thema wiederum als diplomatisches Druckmittel: Als Vorbedingung eines Endes der Drogenwirtschaft fordern sie internationale wirtschaftliche Hilfe.

Gewalteinsatz geringer als befürchtet

Auch beim Einsatz von Gewalt zeigt die Bewegung Wandlungsfähigkeit: Während ihrer ersten, 2001 durch die US-Invasion beendeten Herrschaft schreckten die Taliban vor öffentlichen Steinigungen und Hinrichtungen in Stadien nicht zurück. Eine Neuauflage dieser grausamen Methoden und abschreckenden Szenen schien sich anzukündigen, als die Taliban im September 2021 drei bereits tote Kriminelle an Kränen aufhängten.

UN-Angaben vom Januar dieses Jahres zufolge töteten die Taliban nach ihrer Machteroberung im vergangenen August über einhundert ehemalige Beamte, Mitglieder der Sicherheitskräfte und Personen, die für das von den USA geführte internationale Militärkontingent gearbeitet hatten. Menschenrechtsorganisationen sprechen von bis zu zweihundert Fällen.

Allerdings verzichteten die Taliban auf Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung, schreiben Schetter und Mielke: Abschreckende Bilder in den sozialen Medien suchten sie zu vermeiden. Die Autoren sehen in dem (relativen) Verzicht auf Gewaltanwendung ein "strategisches Kalkül", dass es eingehalten werde, demonstriere "einen hohen Grad an Disziplin" innerhalb der Bewegung. Sie räumen aber ein: "Ein neuerlicher breiter Einsatz extremer Gewalt könnte auch aus einer langfristigen Isolation resultieren, nämlich wenn die internationale Gemeinschaft das neue Image der Taliban nicht durch eine Politik der Annäherung fördert."

Afghanistan I TV Sprecherin Khatereh Ahmadi
Auch Journalistinnen müssen sich wohl oder übel an Taliban-Regeln anpassen Bild: Ebrahim Noroozi/AP/picture alliance

Auch mit Blick auf die Lage afghanischer Frauen plädieren die Autoren für einen Dialog mit den Taliban. Zwar sei davon auszugehen, "dass unter der neuen Taliban-Regierung Frauen Menschen zweiter Klasse und aus der Öffentlichkeit weitgehend ausgeschlossen sein werden. Gleichzeitig gibt es die Hoffnung, dass die Taliban in Teilbereichen, etwa der Mädchenbildung, zu Kompromissen bereit sein werden." Diesen Prozess könne der Westen durch Dialog unterstützen.

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika