Afghanistan
13. Juni 2011Afghanistan gehört zu den korruptesten Staaten der Welt. Im aktuellen Ranking der Nichtregierungs-Organisation Transparency International (TI) belegt das Land gemeinsam mit Birma den vorletzten Platz. Schlusslicht auf der 178 Länder umfassenden Liste ist Somalia. Woran liegt es, dass knapp zehn Jahre nach dem Einmarsch internationaler Truppen die staatlichen Strukturen noch immer äußerst fragil sind? Mit Antworten auf diese Frage tun sich viele schwer.
Der Politikwissenschaftler Martin Kipping, der im Afghanistan/Pakistan-Referat des deutschen Entwicklungsministeriums (BMZ) arbeitet, verweist lieber auf positive Beispiele. Die Kindersterblichkeit sei um ein Drittel gesunken, die Schülerzahl habe sich versiebenfacht, über ein Drittel der Schulkinder seien Mädchen, die Wasser- und Energie-Versorgung sei enorm verbessert worden. "Das ist bemerkenswert und gut", sagte Kipping, der in den Jahren 2007 und 2008 bei der beutschen Botschaft in Kabul für humanitäre Hilfe und wirtschaftliche Fragen zuständig war, auf einer Konferenz der Heinrich Böll-Stiftung in Berlin.
Schwerpunkt deutscher Entwicklungspolitik
Afghanistan ist ein Schwerpunkt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Rund 430 Millionen Euro will die Bundesregierung bis 2013 Jahr für Jahr in den zivilen Wiederaufbau investieren. Das Geld sei trotz aller Rückschläge gut angelegt, ist Kipping überzeugt. Er räumt aber auch ein, dass ihn bei Verhandlungen mit afghanischen Offiziellen mitunter Zweifel beschleichen. "Wir haben manchmal schon Sorge, wenn wir Berichte hören über Hintergrund, Herkunft und Aktivitäten der Repräsentanten des afghanischen Staates", sagt er.
Immer wieder gibt es Berichte über korrupte Beziehungsgeflechte in der Regierung unter Präsident Hamid Karsai. Nicht zuletzt deshalb hat das Entwicklungsministerium die aus seinem Etat 2011 zugesagten Gelder bisher nur zum Teil überwiesen. Der Rest soll erst dann fließen, wenn Fortschritte in der Korruptionsbekämpfung nachgewiesen werden. Mit zwielichtigen Figuren müssen sich deutsche Entwicklungsexperten aber wohl weiterhin arrangieren, denn man könne sich die Gesprächspartner nicht aussuchen. "Afghanistan hat eine souveräne Regierung", nennt Kipping als Grund.
Kleine Fortschritte, wenn überhaupt
Für bessere Regierungsführung und mehr Transparenz in seiner Heimat setzt sich Yama Torabi ein, der in Paris Politik und internationale Beziehungen studiert hat. Als Direktor der von ihm gegründeten Organisation "Integrity Watch Afghanistan" (IWA) ist er täglich mit dem Phänomen Korruption konfrontiert. Mitunter ist es sogar eine Frage von Leben und Tod, wie Torabi am Beispiel eines Mitarbeiters schilderte, dessen Sohn entführt worden war. Der Vater habe eine Vermisstenanzeige aufgegeben und erst später bemerkt, dass der Polizeichef seine Angaben völlig falsch wiedergegeben habe. Mit Hilfe eines Bekannten, der beim Geheimdienst arbeitet, sei es gelungen, den Sohn nach einer Woche zu befreien.
"Wie sich herausstellte, war der regionale Polizei-Chef in den Fall verstrickt", berichtet Torabi. Über die Situation in seiner Heimat macht er sich keine Illusionen. Ihm ist klar, dass Fortschritte im Kampf gegen Korruption und Kriminalität nur in kleinen Schritten und mit viel Geduld möglich sein werden - wenn überhaupt.
Regierungsberater spricht von "westlicher Arroganz"
Dass Afghanistan auch fast zehn Jahre nach dem Einmarsch internationaler Truppen im Teufelskreis aus Krieg, Korruption und Kriminalität gefangen zu sein scheint, wundert den Juristen und Ökonomen Edgardo Buscaglia nicht. Der Amerikaner beschäftigt sich seit langem mit den Ursachen von Korruption im öffentlichen Sektor und den Verbindungen zur Organisierten Kriminalität. Er berät unter anderem die US-Regierung und die Vereinten Nationen.
Die vielen ungelösten Probleme in Afghanistan hält Buscaglia auch für ein Ergebnis westlicher Arroganz. Ständig würde man sich loben: "Schaut her, was wir alles tun und wie gut sich die Dinge entwickeln!" In den Augen der Afghanen aber handele es sich um eine elitäre internationale Gemeinschaft, die Monat für Monat Tausende von Dollars kassiere und in abgeschirmten Quartieren wohne, meint Buscaglia. Die Afghanen verstünden schlichtweg nicht, wovon eigentlich die Rede sei.
Drogenkriminalität ist nur ein Problem
Der Korruptionsexperte wirft dem Westen vor, einen eingeschränkten Blick auf die Verhältnisse in Afghanistan zu haben. Zwar hält er die Bekämpfung der Drogenkriminalität für wichtig. Aber der Anbau von Schlafmohn für die Herstellung von Heroin sei eben nur eine illegale Quelle des Gelderwerbs. Die US-Regierung rede gerne von der großen Drogengefahr. "Aber es gibt auch all die anderen Formen organisierter Kriminalität, die das Leben der Menschen beeinträchtigen", sagt Buscaglia. Dazu zähle eben auch das Kidnapping, mit dem sich eine Menge Geld erpressen lasse.
Martin Kipping, der Afghanistan-Fachmann aus dem deutschen Entwicklungsministerium, sieht in der Bekämpfung der Drogenkriminalität dennoch einen Schlüssel zum Erfolg. Seinen Angaben zufolge ist der Umsatz auf diesem Feld von einer Milliarde US-Dollar im Jahre 2007 auf rund 600 Millionen im vergangenen Jahr zurückgegangen. Das seien nur noch fünf statt zwölf Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung Afghanistans gewesen.
Dramatisch verschlechterte Sicherheitslage
Florian Kühn, Politikwissenschaftler an der Hamburger Bundeswehr-Universität, hält Kippings Schlussfolgerungen für naiv, weil die geringeren Erträge im Mohnanbau Folge naturbedingter Missernten gewesen seien. Es handele sich also um Marktmechanismen. Und er kenne keine seriösen Experten, die behaupten, die Ab- oder Zunahme der Drogenwirtschaft sei die Folge von Politik, die von außen kommt. Damit meint Kühn die Strategie der internationalen Gemeinschaft. Wie nachhaltig die Entwicklung in Afghanistan sein kann angesichts der sich dramatisch verschlechternden Sicherheitslage, darüber gehen die Meinungen offenbar weiter auseinander als je zuvor.