Afrikanische Migration nach Europa: Ein Faktencheck
4. November 2024
Das Thema Migration ist in Deutschland politischer Sprengstoff. Nach einer aktuellen Umfrage der Online Plattform Statista vom Oktober 2024 bewerteten rund 35 Prozent der Befragten das Thema Migration, Asyl und Ausländer als wichtigstes gesellschaftliches Problem in Deutschland - mehr noch, als diejenigen, die sich um Wirtschaftslage und das Klima sorgen. Europaweit hat sich die Rhetorik verschärft und nicht selten fehlt den Diskussionen über Migration die nötige Nüchternheit, Faktengenauigkeit und Differenziertheit.
Das beschäftigt auch Vit Novotny. Er forscht zur Migration am Martens Center in Brüssel, einer politischen Stiftung, die der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) nahesteht. "Es gibt wenige Themen, bei denen die öffentliche Meinung und die Fakten so weit auseinanderliegen“ sagt er der DW. Als Migrationsexperte verbringe er viel Zeit damit, mithilfe von Zahlen und Fakten gegen falsche Behauptungen anzukämpfen.
Die CEO der Mo Ibrahim Foundation, Nathalie Delapalme, sieht darin ebenfalls eine große Aufgabe. Die Französin setzt sich seit Jahren für den Afrika-Europa-Dialog ein. "Diese Missverständnisse führen zu politischen Entscheidungen, die nicht auf die tatsächlichen Herausforderungen ausgerichtet sind", beteuert sie gegenüber der DW.
So gibt es fünf häufige Annahmen über die Migration aus Afrika, die aufgrund der Daten entweder falsch sind oder differenzierter betrachtet werden müssen.
1. "Alle afrikanischen Migranten wollen nach Europa"
Es stimmt zwar, dass immer mehr Afrikaner ihr Heimatland verlassen. Laut der der letzten Studie der Vereinten Nationenist die Zahl der afrikanischen Migranten zwischen 2010 und 2020 um 30 Prozent gestiegen. Doch tatsächlich bleiben die meisten, etwa 80 Prozent, auf ihrem Kontinent. Die meisten ziehen in Nachbarländer oder in wirtschaftlich aufstrebende Regionen wie West- oder Südafrika, um dort Arbeit zu suchen. Vergleichsweise wenige Menschen versuchen in Europa eine neue Heimat zu finden.
2. "Der Krisenkontinent Afrika ist besonders betroffen von Migration"
Bei der Behauptung lohnt sich ein Blick auf das Gesamtbild. Im Jahr 2020 betrug die Gesamtzahl der afrikanischen Migranten laut der UN 40,6 Millionen. Dies entspricht 14,5 Prozent der weltweiten Migrantenbevölkerung. Dieser Anteil ist aber deutlich geringer als der Anteil Asiens (41 Prozent) oder Europas (22,5 Prozent). Das bedeutet, dass mehr Migranten aus asiatischen oder europäischen Ländern stammen als aus afrikanischen.
3. "Die Mehrheit der afrikanischen Migranten flieht vor Krieg und Armut"
Obwohl Europa viele Asylsuchende aus Afrika aufnimmt, kommen die meisten afrikanischen Migranten aus wirtschaftlichen Gründen nach Europa, etwa für ein Studium, wegen der Arbeit oder zum Familiennachzug. Tatsächlich sind laut der UNHCR lediglich acht Prozent der afrikanischen Migranten in der EU Geflüchtete.
Etwa neun von zehn Migranten reisen auf legalem Weg in Europa ein, und nicht etwa im Boot sitzend, sondern im Flieger. "Wenn wir also ein Bild eines Afrikaners wählen müssten, der in die EU kommt,” sagt Migrationsexperte Novotny, “dann eher das von jemandem, der am Gate wartet, mit Pass und Ticket in der Hand."
4. "Die Fachkräftemigration führt zu einem Brain Drain Afrikas"
Ärzte, Busfahrer, Ingenieure aus Kenia: Deutschland sagt 'Karibu' (Willkommen)! Im September 2024 hatten Bundeskanzler Olaf Scholz und Kenias Präsident ein Migrationsabkommen geschlossen. Es soll die Einreise von etwa 250.000 kenianischen Fachkräften ermöglichen. Deutschland will dadurch dem Fachkräftemangel bei einer alternden Bevölkerung entgegenwirken.
Die jungen, wissenshungrigen kenianischen Fachkräfte wiederum fänden Arbeitsstellen, die in ihrer Heimat Mangelware sind. In Großbritannien ist dieser Austausch mit dem afrikanischen Kontinent längst Realität. So arbeiten mehr ghanaische Krankenpfleger bei der NHS, dem britischen Gesundheitssystem, als in Ghana selbst.
Doch was haben afrikanische Staaten davon, wenn ihre qualifizierte Jugend auswandert? Schadet dieser "Brain Drain" dem Kontinent?
Die Forschung zeigt ein nuanciertes Bild: Auch wenn die Auswanderung junger Menschen zunächst einen Verlust an Fachkräften bedeutet, tragen qualifizierte Migranten langfristig durch Rücküberweisungen und Wissenstransfer zur Entwicklung ihrer Herkunftsländer bei.
"Die Geldsendungen von Migranten nach Afrika sind eine der wichtigsten Finanzquellen für afrikanische Staaten", erklärt Nathalie Delapalme. Das Geld, das Migranten jährlich nach Hause überweisen, entspreche der Summe aus öffentlicher Entwicklungszusammenarbeit und ausländischen Direktinvestitionen zusammen. "Migranten bringen also Ressourcen nach Afrika, die sonst durch zusätzliche, größere ausländische Direktinvestitionen von Drittstaaten aufgebracht werden müssten."
5. "Bald werden Klima-Flüchtlinge Europa überrennen"
Schlagzeilen wie "Die große Klima-Migration hat begonnen" in der New York Times oder "Die Migration wird bald die größte klimatische Herausforderung unserer Zeit sein" in der Financial Times schüren die Angst vor einem Massenexodus nach Europa infolge des Klimawandels.
Zwar sind die Folgen der Erderwärmung – wie Dürren, steigende Meeresspiegel und extreme Wetterereignisse – real und bedrohlich, doch Studien zeigen, dass Menschen in den betroffenen Regionen häufig in ihrer Heimat bleiben und sich anzupassen versuchen, anstatt weit wegzuziehen.
Hinzu kommt, dass Migration kostspielig ist. Sie erfordert Ressourcen, die vielen Betroffenen in gefährdeten Regionen fehlen – insbesondere, wenn sie durch eine Klimakatastrophe alles verlieren. Dadurch seien sie oft in ihren Lebensumständen gefangen und erreichten nur selten weiter entfernte Länder, sagt Novotny der Deutschen Welle. "Es ist nicht wissenschaftlich erwiesen, dass der Klimawandel tatsächlich zu internationaler Migration führt."
Falsche Bilder, reale Kosten
Nathalie Delapalme ist gerade zurück aus Rabat, wo sie den Staatsbesuch von Emmanuel Macron begleitet hat. Migration war auch dort ein zentrales Thema. Die Französin, die seit Jahrzehnten durch Afrika reist, weiß, dass Fehlwahrnehmungen reale Kosten mit sich bringen, was auch eine neue Studie der panafrikanischen Nichtregierungsorganisation "Africa no Filter" belegt. Delapalme betont, dass Migrationspolitik auf Grunde von Stimmungen statt Fakten auch das Vertrauen zwischen den beiden Kontinenten untergraben könnte.Afrika: Studie entlarvt Klischees und zeigt Lösungswege auf
Es sei wichtig, die Migration aus Afrika differenziert zu betrachten und nicht unter dem Stichwort "Lampedusa" zu subsumieren. Lampedusa ist die italienisiche Insel, die sinnbildlich für die illegale Einwanderung im zentralen Mittelmeer steht. Delapalme spricht von einer Balance zwischen Fakten, öffentlicher Meinung und Politik, die in Einklang gebracht werden muss. "Wenn nur zwei dieser Elemente vorhanden sind, funktioniert es nicht," erklärt sie.