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Afrodeutsche Geschichte: Immer noch kaum sichtbar

Nadine Wojcik
10. August 2023

Seit dem Kaiserreich lebt die afrodeutsche Familie Diek in Deutschland. Dennoch wird sie bis heute angefeindet. Enkelin Abenaa Adomako macht nun sichtbar, was längst Teil deutscher Erinnerungskultur sein sollte.

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Ein schwarzer Mann und eine weiße Frau sitzen in den 1920er-Jahren an einem Kaffeetisch, daneben jeweils eine Tochter.
Mutter aus Ostpreußen, Vater aus Kamerun: Frühes Familienfoto von Mandenga und Emilie Diek mit Töchtern Erika (r.) und Doris (l.)Bild: Privatbesitz Reiprich

Der Veranstaltungssaal ist bis auf den letzten Platz gefüllt, weitere Gäste stehen an Wände gelehnt oder gar im Türrahmen. Aufmerksam saugt das Publikum Abenaa Adomakos Familiengeschichte und ihre klare Botschaft auf: Seit dem Kolonialismus im 19. Jahrhundert kämpfen Schwarze Deutsche für ihre Rechte, von den Nazis verfolgt, unsichtbar im Nachkriegsdeutschland und selbstbewusst im heutigen Berlin. Zwangsläufig steht die Frage im Raum: Wie kann es sein, dass die Nachfahren der Familie Diek bereits seit 130 Jahren in Deutschland leben und doch bis heute für Anerkennung kämpfen müssen?

"Wir haben alle das gleiche Manko, ob schwarz, ob weiß. Wir fangen alle bei Null an. Auf der schwarzen Seite haben wir die Historie ausgegraben, jetzt verbinden wir uns", sagt Abenaa Adomako. Gemeinsam mit ihrem Bruder Roy und in enger Zusammenarbeit mit dem Kuratorenteam des Schöneberg Museums hat sie eine persönliche Familien-Ausstellung konzipiert. Aufgrund der hohen Nachfrage wird "Auf den Spuren der Familie Diek. Geschichten Schwarzer Menschen in Tempelhof-Schöneberg" nun verlängert.

1. Generation: Migrantinnen und Migranten aus deutschen Kolonien

"Wenn ich davon erzähle, dass meine Omi uns mit Königsberger Klopsen oder Senfeiern bekochte, verwundert das immer noch", erklärt Abenaa Adomako ruhig und unaufgeregt. Sie ist es längst gewohnt, ihre Wurzeln immer wieder zu erklären, ohne sich zu rechtfertigen. Ihre Familie lebt seit fünf Generationen in Deutschland.

Eine schwarze junge Frau sitzt mit zwei weißen Frauen auf einem Metallgitter und lacht in die Kamera.
Unbeschwerte Zeit in Danzig: Doris Diek mit ihren KolleginnenBild: Privatbesitz Reiprich

Die Familiengeschichte der Dieks beginnt mit dem jungen Mann Mandenga, der 1891 von Kamerun nach Deutschland kommt und eine Ausbildung zum Schuster absolviert. Schwarze gelten in der Kolonialzeit als "exotisch" und so setzt ihn sein Lehrmeister ins Schaufenster. Mandenga Diek kündigt und macht sich als Kaufmann selbständig. In Danzig heiratet er in zweiter Ehe die Ostpreußin Emilie und eröffnet einen "Kolonialwarenladen", beliefert gar den kaiserlichen Hof. Er ist ein angesehener und stadtbekannter Mann. Seine Töchter Erika und Doris besuchen ein privates Lyzeum. Dann kommen die Nazis an die Macht.

2. Generation: Afrodeutsche im Nationalsozialismus

Nach der nun geltenden NS-Rassenlehre dürfen die Mädchen keine höhere Schule besuchen. Nachbarn beschimpfen die Familie, die Kinder dürfen nicht mehr ihre Freundinnen treffen. Die Nazis ziehen die Pässe ein - die Dieks leben weiterhin in Deutschland, sind aber offiziell staatenlos. "Die Töchter haben sehr darunter gelitten. Meine Omi wollte Ärztin werden, das war nun alles zerstört", erzählt Abenaa Adomako. Mandenga Diek wird enteignet und verliert sein gut laufendes Geschäft. Die Dieks schlagen sich durch, doch der Vater stirbt frühzeitig an einem Herzinfarkt.

Porträtfoto Abenaa Adomako
Enkelin Abenaa Adomako, Mitbegründerin der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD)Bild: Nadine Wojcik/DW

Die ältere Tochter Erika kommt als Buchhalterin unter und wird toleriert, solange sie versteckt in Hinterkammern arbeitet. Ihre jüngere Schwester Doris trifft es hart: Sie wird für einige Wochen zur Hafenarbeit an die Danziger Werft verschleppt, später entkommt sie dank eines wohlwollenden Polizisten knapp einer Zwangssterilisation.

Entertainment wird zur Überlebensstrategie

Die temperamentvolle Erika verliebt sich in den Schauspieler Louis Brody, die beiden heiraten, bekommen eine Tochter und gehen nach Berlin. Louis Brody stammt ebenfalls aus Kamerun und ist als einer der wenigen schwarzen Darsteller dauerbeschäftigt. In rund 60 Filmen spielt er mit, meist als Statist, in nur drei Filmen erhält er Haupt- und Sprechrollen. Abenaa Adomako kennt ihren Opa nur aus dem TV.

Die Filmwelt ist ein sicherer Ort, die Unterhaltungsbranche bietet eine der letzten Einkommensmöglichkeiten. Doch bleibt Brody zwischen 1933 und 1945 nichts anderes übrig, als in kolonialpropagandistischen Spielfilmen mitzuwirken. Immer und immer wieder muss er den "Wilden" mimen, degradiert zur rassistischen Vorstellung eines "primitiven" Afrikaners. Bei Weigerung hätte ihm Berufsverbot oder eine KZ-Haft gedroht.

Familienfoto einer afrodeutschen Familie
Frauen-Power: Emilie Diek (links) mit ihren Töchtern Erika (2.v.l.) und Doris (2.v.r.) und Enkelin Beryl (Mitte)Bild: Privatbesitz Adomako

Das eigentliche Rückgrat der Familie sind die Frauen. Angefangen mit Emilie Diek, einer Ostpreußin, die sich standhaft zu ihrer Liebe aus Kamerun bekannte und stolz ihre Töchter aufzog. Diese überlebten wiederum die Verfolgung der Nationalsozialisten und hielten nach dem Krieg mit ungebrochener Lebensfreude die gesamte Familie zusammen. Für Abenaa Adomako war ihre Großmutter ein wichtiger Anker. "Sie hatte oft Besuch und in ihrer Wohnung war es sehr lebhaft. Sie hatte stets rot lackierte Nägel und Schuhe mit Absätzen. In ihrer Nachbarschaft war sie recht bekannt."

3. Generation: Vakuum im Nachkriegsdeutschland

Erika und Louis bekommen ein Mädchen, das sie Beryl nennen - Abenaa Adomakos Mutter. In der Weimarer Republik (1919 - 1933) hatte Erika eine diversere und tolerantere Gesellschaft erlebt. Beryl hingegen wächst nach dem Krieg in einem Vakuum auf. "Das schwarze Leben wurde ja kategorisch ausgelöscht. Menschen sind umgebracht worden oder ausgewandert. Deshalb gab es auf einmal eine schmerzliche Lücke."

Ein vollbesetzter Veranstaltungsaal. Auf dem Podium sitzen zwei schwarze Frauen und ein schwarzer Mann
Abenaa Adomako (Mitte) und ihr Bruder Roy bei der begleitenden Veranstaltung im Museum SchönebergBild: Nadine Wojcik/DW

Anders als Erika ist Beryl eine eher zurückhaltende Frau. Sie fügt sich ein, versucht sich im Vakuum des Nachkriegsdeutschlands unsichtbar zu machen. Sie verliebt sich in einen Mann aus Ghana, gemeinsam bekommen sie die Geschwister Abenaa und Roy. "Meine Mutter hat immer darauf geachtet, dass wir uns möglichst unauffällig verhalten", erinnert sich die Berlinerin an ihre Kindheit.

4. Generation: Wir sind viele!

Es sei eine jahrzehntelange Arbeit gewesen, sich aus diesem Kleinmachen zu befreien. Dafür ist sie heute um so lauter: Mit Anfang 30 wird sie Mitbegründerin der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD). "Damit haben wir einen Ort gefunden, wo wir uns stärken und Anerkennung fordern können. An uns kommt niemand mehr vorbei."

Die Community muss sich die Geschichte Schwarzer Deutscher selbst erarbeiten, die weiterhin weder ausreichend dokumentiert noch im Schulunterricht gelehrt wird. Im Vergleich zu beispielsweise den USA oder Großbritannien stehe Deutschland hier noch am Anfang, meint Abenaa Adomako, die für eine Nichtregierungsorganisation arbeitet.

Während viele Afroamerikaner als Nachfahren von Sklaven ihre Familiengeschichten in Archiven nachverfolgen können und deren Geschichten mit oscarprämierten Filmen wie Steven Spielbergs "Die Farbe Lila" oder Steve McQueens "12 Years a Slave" längst einen Platz im kollektiven Gedächtnis gefunden haben, fehlt in Deutschland immer noch Basisarbeit.

5. Generation: Gelebter afrodeutscher Alltag

Für mehr Sichtbarkeit sorgen seit Frühjahr 2023 zwei Stolpersteine an dem letzten Berliner Wohnort von Erika Diek und Louis Brody (mit bürgerlichen Namen Ludwig M'bebe Mpessa). Die Stolpersteine, von denen es 100.000 in ganz Deutschland gibt, gehören zu den ersten sechs überhaupt, die für Schwarze Opfer des Nationalsozialismus verlegt wurden. Großmutter Erika hat die späte Anerkennung nicht mehr erlebt, sie ist 1999 verstorben. Mutter Beryl sei sehr berührt, erzählt Abenaa Adomako. "Sie weint immer viel, wenn ich sie zu unseren Treffen mitnehme. Diese Momente, wo Schwarze Menschen ihre Geschichten erzählen können, hat sie in ihrem Leben sehr vermisst."

Zwei Stolpersteine mit eingravierten Namen.
Spätes Andenken: Am 8. März 2023 wurden für Erika Diek und Louis Brody an ihrem letzten Berliner Wohnort Stolpersteine verlegtBild: Fabian Sommer/dpa/picture alliance

Auch Abenaa Adomako hat eine Tochter geboren, Antonia Adomako, die fünfte Generation der afrodeutschen Familie. Die heute Anfang 24-Jährige arbeitet als Künstlerin in London und thematisiert in Fotoarbeiten auch ihre Familiengeschichte. Noch als Schülerin wollte die Klassenlehrerin Antonia in den Förderunterricht "Deutsch als Fremdsprache" stecken. "Die Lehrerin hat mich mehrfach angerufen und sich beschwert, dass meine Tochter wieder nicht zum Unterricht erschienen ist", erinnert sich Adomako. Ausschlaggebend für diese Entscheidung der Lehrerin war offensichtlich die Hautfarbe.

Abenaa Adomako nimmt ihre Tochter von klein auf zu afrodiasporischen Treffen und Veranstaltungen mit. Als Antonia älter wird, wundert sie sich: So, wie viele der Teilnehmer ihren Alltag beschreiben, empfinde sie ihr Schwarzsein nicht, erzählt ihre Mutter. "Meine Tochter lebt entspannter als meine Generation. Ich bin eher im Kampfmodus, sie hingegen erlebt eine Diversität, in der manche Diskussionen gar nicht mehr aufkommen", sagt Abenaa Adomako zuversichtlich.

Anders als ihre Großmutter Erika, die in Danzig geboren, in Berlin gestorben ist und die Heimat ihrer Vorfahren nie besucht hat, reist Abenaa regelmäßig zu Familienbesuchen nach Ghana, dem Geburtsland ihres Vaters. Mit den Aufenthalten lädt sie ihr afrodeutsches Akku auf.

Worte können diskriminieren, verletzen und ausgrenzen. Um dem diskriminierenden Sprachgebrauch entgegenzutreten, verwenden die Texte der Ausstellung "Auf den Spuren der Familie Diek" die Schreibweise Schwarze Menschen und Schwarze Deutsche als Ausdruck der Selbstermächtigung. Die DW hat sich entschieden, die Begriffe für diesen Artikel zu übernehmen.