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Bilanz der Agenda 2010

28. Dezember 2009

"Agenda 2010" - unter diesem Namen begann im Frühjahr 2003 die größte Arbeitsmarktreform in der Geschichte der Bundesrepublik. "Hartz IV" wurde zum Synonym dieser Maßnahmen. Eine Bilanz an der Schwelle zum Jahr 2010.

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Bundeskanzler Gerhard Schröder hält eine Rede über die Agenda 2010 (Foto: dpa)
Bild: DPA

"Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen." Mit diesen Worten will der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder Deutschland auf Reformkurs bringen. In seiner Regierungserklärung am 14. März 2003 stellt er die Agenda 2010 vor. Die Sozialsysteme sollen saniert, die Lohnnebenkosten auf unter 40 Prozent gesenkt und der Arbeitsmarkt flexibler gestaltet werden. Damit soll die deutsche Finanzlage wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Und das alles möglichst bis 2010, weil die Europäische Union bis dahin zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt werden soll.

Fordern und Fördern ist das Motto des deutschen Reformprojektes. Die größte Veränderung für Arbeitslose ist die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Niemandem, so Bundeskanzler Schröder werde es künftig gestattet sein, sich zu Lasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehne, der werde mit Sanktionen rechnen müssen, kündigt der Bundeskanzler an.

Peter Hartz – der Ideengeber der Agenda 2010

Der Schriftzug der Arbeitsmarktreform Hartz IV geformt mit Steinen und dem Brett eines Scrabble-Spiels sowie Minifiguren einer Modelleisenbahn (Foto: dpa)
Hartz IV - und raus bist DuBild: dpa

Die Ideen zur groß angelegten Reform der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik liefert der damalige Volkswagenmanager Peter Hartz mit einer Kommission. Nach ihm sind vier Gesetze benannt, die in den folgenden Jahren von der rot-grünen Koalition im Bundestag verabschiedet werden – die so genannten Hartz-Gesetze zur Reform des Arbeitsmarktes. Insbesondere "Hartz IV", das Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegt, sorgt für Ängste. Für viele bedeutet es weniger Geld vom Staat. Immer mehr Menschen gehen auf die Straße und rufen Parolen wie "Hartz IV, weg mit Dir."

Auch die Sozialdemokraten tun sich schwer mit dem Reformprojekt, weil sie doch seit jeher auf der Seite der Gewerkschafter und Arbeitnehmer stehen. Insbesondere die SPD-Linke kritisiert die Agenda 2010 und meint, dass die SPD dadurch bei den Wählerinnen und Wählern an Glaubwürdigkeit verliere. Trotz dieser kritischen Töne schafft es Gerhard Schröder im Sommer 2003, die Genossen auf seine Linie einzuschwören. Er appelliert an den Mut der SPD-Mitglieder, Neues zu wagen. Auch wenn sie sich dadurch von manchem, was ihnen lieb geworden sei und gelegentlich auch leider zu teuer, verabschieden müssten, sagt Schröder auf dem SPD-Sonderparteitag Anfang Juni 2003.

Mit Transparenten stehen Demonstranten bei der Leipziger Montagsdemonstration (Foto: dpa)
"Hartz IV, weg mit Dir" rufen Demonstranten in LeipzigBild: dpa

Die Angst vor dem sozialen Abstieg wächst

In Deutschland geht derweil die Angst um, arbeitslos und Hartz-IV-Empfänger zu werden. Hartz IV wird zum Synonym für Abstieg und Scheitern. In Ostdeutschland gibt es wieder - wie kurz vor der Wiedervereinigung - die so genannten Montagsdemonstrationen: 90.000 Menschen gehen allein im August 2004 auf die Straße. Sie fühlen sich vom Staat im Stich gelassen. Ein Betroffener fragt, wie er als Familienvater mit vier Kindern und einer Invalidenrentnerin als Frau mit 316 Euro im Monat auskommen solle.

Ein Jahr nach den massiven Protesten kommt es 2005 zum Regierungswechsel. Auf die rot-grüne Koalition folgte die große Koalition aus CDU/CSU und SPD unter der neuen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie würdigt die die Reform-Leistungen ihres Vorgängers. Bundeskanzler Schröder habe mutig und entschlossen eine Tür zu Reformen aufgestoßen und sich damit um unser Land verdient gemacht, sagt Merkel in ihrer ersten Regierungserklärung Ende November 2005.

Arbeitsmarkt und Parteienlandschaft im Wandel

Die Maßnahmen der Agenda 2010 beginnen, Wirkung zu zeigen. Der deutsche Arbeitsmarkt wird durch die Liberalisierung der Zeitarbeit dynamischer, Arbeitslose stehen jetzt schneller zur Verfügung. Außerdem ist für viele Unternehmen der deutsche Standort wieder attraktiver geworden durch die Senkung der Lohnnebenkosten und die Lockerung des Kündigungsschutzes. Und: Durch den Ausbau der Kinderbetreuung in Kindertagesstätten und der Förderung von Ganztagsschulen wird es besonders für viele Frauen einfacher, wieder zu arbeiten und Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen.

Gregor Gysi, rechts, der Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke, und Oskar Lafontaine, links, der Parteivorsitzende der Partei Die Linke winken den Delegierten zu (Foto: AP)
Die neuen Linken Lafontaine und GysiBild: AP

Die SPD steht allerdings weiterhin nicht geschlossen hinter der Agenda 2010. Franz Müntefering als neuer SPD-Chef vergrault durch seinen vehementen Einsatz für die Rente mit 67 weitere SPD-Wählerinnen und Wähler. Diese und etliche Hartz-IV-Gegner sammeln sich alsbald in der so genannten neuen Linken, ein Zusammenschluss der Ex-PDS unter Gregor Gysi und der WASG, das Wahlbündnis für Arbeit und Soziale Gerechtigkeit unter dem ehemaligen SPD-Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine. Die neue Linke wird zu einem ernsthaften Konkurrenten für die SPD.

Wirtschaftsexperte zieht gemischte Bilanz

Seit gut sechseinhalb Jahren beobachtet Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln, wie die Agenda 2010 umgesetzt wird. In seinen Augen hat das Reformprojekt von der Grundsatzentscheidung her eine fundamentale Veränderung bewirkt, die das gesamte System neu justiert habe. Der Kölner Wirtschaftsexperte meint allerdings, dass es bei Arbeitslosengeld II und Hartz IV eine Menge an Veränderungsbedarf gebe. Kritik übt Hüther vor allen Dingen an der Informationspolitik der damaligen rot-grünen Bundesregierung. Diese habe es versäumt, der deutschen Bevölkerung die Notwendigkeit und die Gründe für die Agenda 2010 nahe zu bringen.

Die Statue der Justitia, der Göttin der Gerechtigkeit, steht mit der Waage und dem Richtschwert in der Hand auf dem Römerberg zwischen roten Fahnen hinter einem Transparent mit der Aufschrft "Weg mit Hartz IV und Agenda 2010" bei der Mai-Demonstration des DGB am 1. Mai in Frankfurt am Main (Foto: dpa)
Hätte Justitia gerne selbst Hartz IV?Bild: picture alliance / dpa

Allerdings habe die Agenda 2010 dazu beigetragen, die derzeitige Wirtschaftskrise für Deutschland abzufedern. Denn sie habe unter anderem den Arbeitsmarkt durch eine höhere Flexibilität stabiler gemacht, weil Unternehmen zum Beispiel stärker die Zeitarbeit genutzt hätten. Auf die schwarz-gelbe Wirtschaftspolitik kann sich der Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft noch keinen Reim machen. Im Augenblick erkenne er nicht, dass die neue Bundesregierung am Arbeitsmarkt wieder konsequenter auf Öffnung oder auf wettbewerbsfähige Arbeitsplätze setzen wolle.


Autorin: Anja Fähnle
Redaktion: Martin Schrader