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AIDS – das Tabuthema

Joscha Weber14. Juni 2012

Seit der Ball rollt, scheint die Ukraine ihre Probleme vergessen zu haben. Die farbenfrohen Bilder der EM überlagern nicht nur die Menschenrechtsfrage, sondern auch die AIDS-Gefahr, die nirgendwo in Europa größer ist.

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AIDS-Patientin Alina steht in der Lavra-Klinik Kiew. (Foto: DW/Joscha Weber)
Bild: DW/Joscha Weber

Alinas Welt misst drei mal vier Meter. Ein schlichtes Zimmer, hellgelb gestrichen, das sie sich mit drei anderen Patientinnen teilen muss. Zwischen Kreuzworträtselheften und ein paar Romanen liegen zahllose Medikamentenpackungen. Die Luft im Raum ist feucht und sehr warm. Langsam steht Alina von ihrem Bett auf und begrüßt den Besuch mit einem schüchternen Kopfnicken. Ihre Statur wirkt gebrechlich, doch ihre Stimme ist fest und klar. "Lange Zeit habe ich die falsche Behandlung bekommen", erzählt sie und wirkt dabei ruhig und gefasst. Alina hat AIDS.

Zahl der HIV-Infektionen hat sich verdreizehnfacht

Immer wieder kam es zu schweren Nebenwirkungen, sagt sie, wegen der falschen Medikamente. "Zusätzlich bekam ich Tuberkulose und Leberzirrhose. Alles wegen einer falschen Therapie." Das Schlimmste liegt hinter Alina, die mittlerweile im nationalen AIDS-Zentrum der Ukraine, der Lavraklinik in Kiew, behandelt wird. Die Klinik liegt vis-à-vis zum Höhlenkloster Kijewo-Petscherska Lawra, einem der größten Heiligtümer der Ukraine. Und auch sonst ist das kleine, auf AIDS-Patienten spezialisierte Krankenhaus eine Ausnahme im Land.

Wie so viele ihrer mit dem HI-Virus infizierten Landsleute war auch Alina lange ein Opfer der schlechten Gesundheitsvorsorge in der Ukraine, dem Land mit der höchsten AIDS-Rate in Europa. Laut einem aktuellen UNICEF-Bericht hat sich die Zahl der HIV-Infektionen in den vergangenen fünf Jahren verdreizehnfacht. 440.000 Menschen im Alter von 15 bis 49 Jahren sind nach Schätzungen HIV-positiv, die meisten davon Jugendliche und junge Erwachsene. Ein riesiges AIDS-Problem braut sich an der Peripherie der Europäischen Union zusammen, aber kaum jemand schaut hin. Gerade jetzt ist das fatal, denn mit der Fußball-EM steigt der Sex-Tourismus in der Ukraine stark an und damit auch die Gefahr einer Ausbreitung von AIDS.

AIDS-Medikamente iin der Lavra-Klinik Kiew. (Foto: DW/Joscha Weber)
Medizin und Glaube – Szene aus der LavraklinkBild: DW/Joscha Weber

"Ein Fleck, der sich immer weiter verbreitet"

Einer der wenigen, der hinschaut, ist Martin Kade. Für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) hilft er in der Ukraine bei der Aufklärung. Dafür versucht er, prominente Gesichter für die Sache zu gewinnen - alles mit dem Ziel, das Thema AIDS zu enttabuisieren. "Wir haben den Bayern-Spieler Anatoli Timoschtschuk als Botschafter gewonnen. Er hat sofort ja gesagt", freut sich Kade, der aber weiß, dass AIDS mit prominent besetzten Werbevideos allein nicht einzudämmen ist. "Die Epidemie fing mit intravenösem Drogenkonsum an. Heute ist die Krankheit wie ein Fleck, der sich immer weiter verbreitet - nicht mehr so sehr über Drogen, sondern über ungeschützten Geschlechtsverkehr."

Anatoli Timoschtschuk im EM-Spiel gegen Schweden (Foto: Reuters)
Prominenter Botschafter der AIDS-Kampagne "Fair Play": Der ukrainische Fußballstar Anatoli TimoschtschukBild: Reuters

Und den wird es gerade jetzt während des Fußballfests im eigenen Land viel häufiger geben, meint Anna Guzol. "Die EM wird den Sex-Tourismus in der Ukraine noch vorantreiben und die Frauen hierzulande weiter erniedrigen", sagt Guzol von der Gruppe Femen, die sich seit Jahren – auch mit öffentlichkeitswirksamen Nacktprotesten – für die Frauenrechte in der Ukraine einsetzt. Als "hübsche, billige Sexobjekte" würden ukrainische Frauen betrachtet, die oft die finanzielle Not in die Prostitution treibt.

Rund 150.000 Menschen in Odessa sollen AIDS haben

Doch AIDS ist in der Ukraine längst nicht mehr ein Problem von Prostituierten oder Schwulen, wie lange Zeit auch von offizieller Seite suggeriert wurde. In der rund eine Million Einwohner zählenden Schwarzmeerstadt Odessa sollen nach Schätzungen mittlerweile 150.000 Menschen das HI-Virus in sich tragen. Vielleicht macht das EM-Turnier auch deshalb einen weiten Bogen um den Süden des Landes.

Alina kommt aus Odessa, das HI-Virus habe sie sich aber in der Grenzregion zu Russland eingehandelt. "Ich glaube, ich habe das Virus durch eine schmutzige Nadel bekommen. Damals habe ich Drogen genommen", gibt sie unumwunden zu. Großzügig aufgetragenes Makeup bedeckt ihre blasse Haut. Den Lippenstift benutzt sie auch in ihrem Krankenzimmer. Doch weder Makeup noch Lippenstift können verbergen, dass die 43-Jährige älter aussieht als sie ist. Trotz der besseren Versorgung mit Medikamenten geht es ihr mal besser und mal schlechter. Derzeit leidet sie an Hepatitis C. Eine Krankheit, die in der Ukraine nur schwer zu behandeln ist. Eine Krankheit, an der im November Alinas Mann gestorben ist.

Das Problem wird verdrängt

Wie Hepatitis C ist auch AIDS in der Ukraine längst eine Krankheit, die beide Geschlechter betrifft. "Es gibt heute in etwa gleich viele HIV-positive Frauen wie Männer. Das zeigt für uns, dass AIDS kein Problem von Randgruppen ist, sondern in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist", erzählt Svitlana Antoniak, die in der Lavraklinik neben Alina 29 weitere Patienten behandelt. "Wir haben hier viel zu wenig Platz", ergänzt ihre Kollegin Larissa Getjman. Seit sechs Jahren leitet sie die Klinik, die sogar von der Schließung bedroht war, weil das Grundstück anderweitig genutzt werden sollte. Einiges habe sich in der Zwischenzeit getan, meint GIZ-Mitarbeiter Martin Kade, der mit seiner Aufklärungskampagne "Fair Play" inzwischen wahrgenommen wird. Doch sein Gesamteindruck vom Umgang der Ukraine mit AIDS bleibt: "Das Problem wird verdrängt, obwohl es so offensichtlich ist".

Larissa Getjman steht in der Lavra-Klinik Kiew. (Foto: DW/Joscha Weber)
Larissa Getjman, Leiterin der Lavraklinik in KiewBild: DW/Joscha Weber

Zum Abschluss der Fußball-Europameisterschaft wird AIDS dann doch noch in den Fokus der Öffentlichkeit rücken: Wenn Popstar Elton John und die Gruppe Queen am 30. Juni, dem Vorabend des EM-Finales, bei einem Konzert in Kiew auftreten, wollen sie auf die HIV-Problematik im EM-Gastgeberland hinweisen. Bunte Bilder, laute Klänge, prominente Gesichter gegen AIDS sind sicher eine gute Idee. Wirklich helfen können sie Menschen wie Alina aber kaum.