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AKW-Unfall in Frankreich verharmlost?

4. März 2016

Womöglich war es eine der dramatischsten Havarien in Westeuropa - die aber heruntergespielt wurde. 2014 musste ein Krisenstab im Reaktor Fessenheim die Notbremse ziehen, mit einer sehr ungewöhnlichen Maßnahme.

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Atomkraftwerk Fessenheim im Elsass (Archivbild: dpa)
Der Dinosaurier unter Frankreichs Atomkraftwerken: Fessenheim im Elsass, seit 1977 in Betrieb (Archivbild)Bild: picture-alliance/dpa

Ein Zwischenfall im französischen Atomkraftwerk Fessenheim nahe der deutschen Grenze war laut Medienberichten gravierender als bislang bekannt. Die französische Atomaufsicht ASN habe den Vorfall im April 2014 gegenüber der Internationalen Atomenergiebehörde heruntergespielt, berichten WDR und "Süddeutsche Zeitung" (SZ).

Ein Wassereinbruch auf mehreren Ebenen hatte damals die Elektrik beschädigt. Eines der beiden Systeme zur Reaktorschnellabschaltung fiel aus. Der Versuch, den Reaktor ordnungsgemäß herunterzufahren sei gescheitert, weil sich die Steuerstäbe nicht bewegen ließen. Die Medien berufen sich bei ihrer Darstellung auf ein Schreiben der ASN an den Leiter des Kraftwerks wenige Tage nach dem Zwischenfall.

"Seele der Anlage war betroffen"

WDR und SZ zitieren einen Reaktorexperten, dem zufolge es eine vergleichbare Situation in Westeuropa bis dahin noch nicht gegeben habe. "Es betrifft hier den Reaktorkern, also die Seele, die Zentrale der Anlage", so Manfred Mertins, der seit Jahrzehnten als Sachverständiger für Reaktorsicherheit tätig ist. Er war Mitarbeiter der Gesellschaft für Reaktor- und Anlagensicherheit (GRS), die im Auftrag der Bundesregierung die Sicherheit von Atomkraftwerken bewertet.

2014 protestiert Greenpeace in Fessenheim gegen überalterte AKW-Meiler (Archivbild: picture-alliance/dpa)
"Gefahr für Europa": Im März 2014 protestiert Greenpeace in Fessenheim gegen überalterte AKW-MeilerBild: picture-alliance/dpa

Laut Mertins handelte es sich um ein "sehr ernstes Ereignis". Für etwa drei Minuten sei die Temperatur im Reaktorkern aus dem Ruder gelaufen. In dieser dramatischen Situation richtet der Kraftwerksbetreiber einen Krisenstab ein, der sich für eine ungewöhnliche Maßnahme entscheidet: Bor wird in den Reaktorbehälter eingeleitet, um den Reaktor herunterzufahren.

Von den Behörden heruntergespielt

Experte Mertins zeigte sich nicht nur über die Auswirkungen, sondern auch über die Ursache des Unfalls bestürzt. Es hätte nicht passieren dürfen, dass Wasser in mehrere Räume und vor allem in die Leittechnikschränke des Reaktorschutzes gelangte, sagte er. "Dass ein Strang komplett ausgefallen ist, das geht gar nicht."

Die französischen Behörden spielten ebenso wie die Betreiberfirma EDF den Vorfall in der Öffentlichkeit herunter. Nicht einmal die Internationale Atomenergiebehörde IAEA in Wien erfuhr davon, dass Bor als Notbremse eingesetzt werden musste. Die Atomaufsicht erklärte damals in einer Pressemitteilung, der Wassereinbruch in Schaltkästen im nichtnuklearen Teil der Anlage habe eines der zwei separaten Elektroniksysteme für die Notabschaltung beschädigt. Die ASN betonte jedoch, dass das zweite weiterhin funktionierte und damit das Funktionieren stets sichergestellt gewesen sei.

Peter: "Nicht hinnehmbar"

Auf eine Anfrage der Deutschen Presse-Agentur reagierte die ASN zunächst nicht. Die Vorsitzende der Grünen, Simone Peter, zeigte sich in einer ersten Reaktion entsetzt. "Ein Betreiber, der wie ein Hasardeur agiert, eine Aufsicht, die beide Augen zudrückt, und ein AKW, das aus dem letzten Loch pfeift - das ist nicht hinnehmbar", sagte sie. Dadurch sei auch die Bevölkerung in Deutschland gefährdet. Wegen der Häufung von Zwischenfällen in grenznahen Atomkraftwerken forderte sie eine Neubewertung der Nuklearenergie in Europa.

Wesentlich weniger dramatisch bewerten Sicherheitsexperten im deutschen Umweltministerium in Berlin das Ereignis in Fessenheim. Die deutschen Experten arbeiten in einer Kommission eng mit ihren französischen Kollegen zusammen. Dass der Reaktor zwischen zeitig nicht mehr steuerbar gewesen sei, treffe nicht zu, sagten die Experten am Freitag. Für das Abschalten durch die Zugabe von Bor habe gesprochen, dass diese Variante für den Reaktor wesentlich schonender sei, ein Herunterfahren durch das Einführen der Steuerstäbe sei aber auch möglich gewesen, nur in einem sehr schnellen Tempo. Aber auch die deutschen Fachleute können sich nicht erinnern, dass eine Bor-Abschaltung schon einmal in einem westeuropäischen Kernkraftwerk durchgeführt wurde. Ein Atomreaktor in Bulgarien sei aber einmal durch Borzugabe heruntergefahren worden.

Der Sprecher von Umweltministerin Barbara Hendricks, Michael Schroeren, sagte dennoch: "Unsere Haltung zum alten Kernkraftwerk in Fessenheim bleibt kritisch, das sagen wir den Franzosen auch stets. Im Interesse der französischen und deutschen Bevölkerung in der Nähe muss das Kernkraftwerk schnell stillgelegt werden."

Fessenheim im Elsass, nahe der Grenze zu Baden-Württemberg, ist das älteste AKW Frankreichs. Atomkraftgegner fordern schon lange, es so schnell wie möglich abzuschalten. Präsident François Hollande hatte die Stilllegung bis zum Ende seiner Amtszeit angekündigt. Diese läuft bis Mai kommenden Jahres.

jj/kle (dpa, tagesschau.de)