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Islamisches Emirat über Ländergrenzen hinweg

Andreas Gorzewski19. Dezember 2013

Die radikale Gruppe ISIS kämpft sowohl gegen das Regime als auch gegen andere Rebellen. Inzwischen kontrolliert sie weite Gebiete. Obwohl die Organisation sich zu Al-Kaida bekennt, ignoriert sie deren Anweisungen.

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Zerstörtes Haus in Aleppo (Foto: Reuters)
Bild: Reuters

Der "Islamische Staat im Irak und der Levante" (ISIS) kümmert sich nicht um Landesgrenzen. Einheiten des Al-Kaida-Ablegers operieren von der irakischen Wüste bis fast an die syrische Küste. Fernziel ist ein neues Emirat oder Kalifat im gesamten Nahen Osten. Auf dem Weg dahin ist nicht nur die syrische Regierung in Damaskus im Weg. Auch die meisten anderen Regimegegner in dem Bürgerkriegsland werden als Feinde betrachtet. In den vergangenen Monaten haben ISIS-Kämpfer ihr Territorium in Nordsyrien ausgeweitet, meist auf Kosten der übrigen Rebellenbrigaden. So lieferten sich unter anderem die oppositionelle Freie Syrische Armee (FSA) und syrische Kurden heftige Gefechte mit ISIS-Verbänden. Sogar mit anderen Al-Kaida-Anhängern ist die ISIS-Führung zerstritten.

ISIS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi befehligt nach Einschätzung des Syrien-Experten Michael Stephens 7000-10.000 Mann. Ein zusammenhängendes Emirat kann der Forscher der britischen Denkfabrik Royal United Services Institute (RUSI) jedoch nicht erkennen. ISIS kontrolliere in Syrien zwar einige nördliche Regionen sowie Gebiete um die Städte Idlib und Aleppo. "Der einzige Ort, wo sie wirklich zur Gründung eines Emirats in der Lage sind, ist Rakka im Zentrum des Landes", sagt Stephens im DW-Gespräch.

Innerhalb der völlig zersplitterten syrischen Opposition mischt ISIS erst seit etwa acht Monaten mit. Zuvor kämpfte bereits die Nusra-Front im Namen von Al-Kaida. Im April 2013 kam der "Islamische Staat im Irak" unter al-Baghdadi hinzu, verkündete die Vereinigung mit der Nusra-Front und passte den eigenen Namen an den erweiterten Anspruch an. Bis dahin hatten al-Baghdadis Anhänger nur im Irak Bomben gelegt und Attentate verübt. Im Juli 2013 hatten sie Hunderte von Gefangenen aus irakischen Gefängnissen befreit.

Kämpfer mit einer schwarzen Flagge der Nusra-Front (Foto. AP)
Die Nusra-Front kämpft zuweilen mit ISIS gemeinsam, hat aber eigene ZieleBild: picture-alliance/AP

Strategische Differenz zwischen Al-Kaida-Gruppen

Die Nusra-Front widersetzte sich jedoch dem Zusammenschluss. Laut Stephens ist die Nusra-Führung auf Syrien ausgerichtet, während ISIS über die Grenzen hinaus denkt. "ISIS ist mehr eine globale Marke, es hat viel mehr ausländische Kämpfer als die Nusra-Front", beschreibt der in Katar ansässige Forscher die Unterschiede. Bei Bedarf bündelten beide Gruppen ihre Kräfte. In ihrer Zielsetzung gehen sie jedoch auseinander.

Auch die Verbindungen zu Al-Kaida sind unklar. Der Anführer des Terrornetzwerkes, Eiman al-Sawahiri, forderte von ISIS, sich aus Syrien herauszuhalten. Doch die Gruppe ignorierte die Anweisung, die vermutlich aus den pakistanischen Bergen kam. "Sie steht vielleicht nicht unter der direkten Kontrolle des Al-Kaida-Ablegers in Pakistan, aber sie ist auf derselben ideologischen Linie", betont Stephens.

Doch auch ohne Rückendeckung der Al-Kaida-Spitze ist der "Islamische Staat" offenbar gut gerüstet. Der schwedische Syrien-Kenner Aron Lund verweist auf private Sponsoren am Golf. Außerdem komme Unterstützung aus dem Irak. "Sobald sie einen Checkpoint oder einen Grenzübergang kontrollieren, können sie Abgaben auf die Waren dort erheben", erklärt der Herausgeber der Website Syria in Crisis der Carnegie-Stiftung. Außerdem habe keine Gruppe so viele ausländische Freiwillige wie ISIS. Viele von ihnen brächten Geld mit.

Diese Freiwilligen bereiten westlichen Sicherheitsdiensten zunehmend Sorge. Tausende ziehen aus der ganzen Welt in den Bürgerkrieg. Ende November rief ein Deutscher mit dem Kampfnamen Abu Osama in einem Internetvideo von ISIS dazu auf, nach Syrien zu kommen und mitzukämpfen. "Wenn der Krieg andauert und solche Gruppen weiterhin Nordsyrien kontrollieren, kann das wie in Afghanistan werden", warnt Lund. Wie am Hindukusch seien die Camps für die Freiwilligen mehr als nur Trainingslager. Dort würden Kontakte geknüpft und Feindschaft gegen den Westen und die arabischen Regime gepredigt.

Maskierte Kämpfer in einem Lager bei Damaskus (Foto: Reuters)
In Syrien kämpfen viele verschiedene Islamisten-Gruppen gegen das RegimeBild: Reuters

Westen in Syrien vor einem Dilemma

Der Machtzuwachs radikaler Islamisten innerhalb der syrischen Opposition stellt den Westen vor ein Dilemma. Wenn Amerikaner und Europäer die moderaten Widerstandsgruppen nicht unterstützen, verlieren diese gegenüber ISIS und der Nusra-Front noch mehr an Boden. Wenn sie den moderaten Kräften jedoch Waffen und Gerät liefern, müssen sie befürchten, dass dieses Material am Ende bei Al-Kaida-Anhängern landet. Die ungeklärte Erstürmung eines Waffendepots der Freien Syrischen Armee verstärkte diese Sorge. Washington kündigte einen vorübergehenden Lieferstopp an. RUSI-Experte Stephens hält das für falsch. "Als Folge werden die Rebellengruppen immer mehr von Islamisten dominiert werden", kritisiert er.

Der Vormarsch der Extremisten überschattet die für kommenden Januar geplante Syrien-Friedenskonferenz. Die Führung des "Islamischen Staates" dürfte an einer politischen Lösung des bald drei Jahre andauernden Krieges kein Interesse haben. "Sie ziehen jetzt Menschen an, weil sie gute Kämpfer und eine starke Bewegung haben und es scheinbar keine Alternative zum Krieg gibt", sagt Syrien-Experte Lund. Bei einem Frieden würde ihre Anziehungskraft verblassen. Das wolle sie auf keinen Fall.