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"Alle laufen über diese Straße"

Daniel Heinrich19. März 2016

Mitten in Istanbul sprengte sich offensichtlich ein Selbstmordattentäter in die Luft. Kristian Brakel, der Leiter der Heinrich Böll Stiftung, zeigt sich im DW-Interview schwer besorgt.

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Straßenszene aus Istanbul nach Anschlag, Foto: Reuters
Bild: Reuters/M. Sezer

DW: Wie ist die Stimmung in Istanbul?

Kristian Brakel: Die Stimmung ist prinzipiell schon seit einigen Tagen gedrückt. Jetzt, nach dem neuesten Anschlag, sind die Menschen hier noch einmal in besonderer Sorge. Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass man selber Opfer eines Anschlags wird, sticht der Ort des jetzigen Anschlags natürlich besonders hervor. Wir alle sind schließlich schon einmal über diese Straße gelaufen.

Haben die Menschen in der Türkei Angst?

Das ist schwierig zu beantworten. Istanbul ist eine riesige Stadt mit 16 bis 20 Millionen Einwohnern. Das bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Sie in so einen Anschlag geraten sehr gering ist. Aber natürlich wächst mit der Zahl der Anschläge vor allem die Sorge der Menschen, die zu Massenveranstaltungen, die zu Demonstrationen gehen.

Haben die türkischen Sicherheitsbehörden die Lage noch unter Kontrolle?

Aus meiner Beobachtung hat sich lange Zeit wenig getan. Die Polizeikräfte die man im Stadtzentrum von Istanbul sieht, wurden eher dazu eingesetzt Menschen von Demonstrationen abzuhalten. Nach dem Anschlag im Januar, als deutsche Touristen in Istanbul ums Leben kamen, hat sich allerdings merklich etwas geändert. Vor allem die Sicherheitskontrollen am Flughafen haben zugenommen, in den U-Bahnen wird verstärkt kontrolliert. Diese Maßnahmen ähneln sehr stark denen, die wir auch aus europäischen Hauptstädten kennen. Absolute Sicherheit, auch das kennen wir aus Europa, kann nicht hergestellt werden.

Haben Sie zum jetzigen Zeitpunkt schon eine Vermutung wer hinter dem Anschlag stecken könnte?

Es gibt drei Optionen, die zunächst in Frage kämen. Das ist zum einen der Islamische Staat, der bei seinen Anschlägen vor allem touristische Ziele in den Blick nimmt. Über die Istiklal-Straße, die heute getroffen wurde, laufen fast alle Touristen, die Istanbul besuchen. Auf der anderen Seite spricht dagegen, dass dieser Anschlag, aus meiner Warte, etwas amateurhaft ausgeführt wurde. Hätte man beispielweise die Abendstunden abgewartet, man hätte viel mehr Menschen treffen können.

Als zweite Option kämen die PKK und verbundene kurdische Organisationen, wie die Freiheitsfalken, in Betracht. Diese waren für die Anschläge in Ankara verantwortlich. Für diese Gruppierungen spricht, dass am Montag Newroz beginnt - das kurdische Neujahrsfest und eine Zeit der politischen Kundgebungen und extremer Spannungen. Die PKK hatte auch angekündigt, ihre Anschläge auf das ganze Land ausweiten zu wollen. Gegen diese Theorie spricht allerdings, dass sich Anschläge dieser Gruppierungen eher gegen Sicherheitskräfte richten. Selbst nach den Anschlägen von Ankara ist man an die Presse getreten, hat betont, dass es Polizeikräfte waren, die man mit dem Anschlag treffen wollte. Die zivilen Opfer hat man mehr oder weniger billigend in Kauf genommen.

Rechte. privat
Kristian Brakel leitet das Büro der Böll-Stiftung in IstanbulBild: privat

Bei der dritten Gruppe handelt es sich um eine linksgerichtete extremistische Splittergruppe. Für diese Gruppe spricht in diesem Fall, dass die Attentate oftmals von sehr jungen, oftmals untrainierten Attentätern vorgenommen werden. Gegen diese Gruppierung spricht wiederum, dass diese im Normalfall türkische Sicherheitskräfte, oder ausländische Vertretungen ins Visier nehmen.

Vor dem Hintergrund der unstabilen Lage in der Türkei: Sollte die EU ihre Haltung gegenüber der Türkei in der Flüchtlingsfrage überdenken?

Ich finde, da sollten wir differenzieren. Es gibt ganz viele Fragen, die dieser Deal mit der Türkei aufwirft. Dazu gehören die Rechte der Flüchtlinge, dazu gehört das europäische Asylrecht. Einen Zusammenhang zu solchen Anschlägen kann ich allerdings nicht erkennen. Falls sich die Sicherheitslage in der Türkei jedoch weiter verschlechtern sollte, sollte man auf europäischer Seite seine Haltung überdenken. Es ist jetzt sehr wichtig, dass man der Türkei klar macht, dass der türkische Staat und die PKK zum Friedensprozess zurückkehren.

Kristian Brakel ist Experte für den Nahen und Mittleren Osten und leitet derzeit das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung im türkischen Istanbul.