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"American Dream" und iranischer Albtraum

8. März 2021

Träume von US-Bürgern als Material in einem iranischen Geheimlabor? Eine Videoarbeit der Künstlerin Shirin Neshat mischt Phantasie mit realen Elementen.

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Shirin Neshat - Land of Dreams, 2019 Video Still
Bild: Shirin Neshat/Courtesy the artist and Gladstone Gallery/New York and Brussels

Träume: Sehnsüchte, Ängste, Bilder vergangenen oder kommenden Lebens, auch des ungelebten Lebens: Es sind intime Regungen, die die Männer und Frauen aus ländlichen Siedlungen in New Mexico in der jüngsten Videoarbeit der iranisch-US-amerikanischen Künstlerin Shirin Neshat  preisgeben. "Land of Dreams" heißt sie und wurde zuletzt in der New Yorker "Gladstone Gallery" präsentiert. Im Herbst wird das Werk auch in Deutschland zu sehen sein.

Es ist halb Dokumentation und halb Fiktion. Zunächst zum Dokumentarischen: Zu sehen ist eine iranischstämmige Kunststudentin, Simin, die Porträts von Bürgern der Region anfertigt und sich mit ihnen über deren Träume unterhält. Die entsprechenden Anfragen laufen nicht immer glatt: Eine Frau schlägt der Studentin die Tür vor der Nase zu. Viele aber lassen sich fotografieren, auch geben sie bereitwillig über ihre Träume Auskunft. Über den meisten dieser Interviews hängt eine Wolke der Melancholie. Die meisten Gespräche handeln von geplatzten Träumen.

Alfonso Garundo aus New Mexico. Ein Porträt aus der Serie "Land of Dreams"
Alfonso Garundo aus New Mexico. Ein Porträt aus der Serie "Land of Dreams"Bild: Shirin Neshat Courtesy the artist and Gladstone Gallery

Randexistenzen im amerikanischen Westen

Geführt im Jahr 2019, während der Regierungszeit von Donald Trump, legen diese Interviews zumindest in Ausschnitten das Unbewusste Amerikas frei. "Ich wollte die Regungen des Landes erfassen", sagt Shirin Neshat im Interview mit der Deutschen Welle. "Es ging mir darum zu erfahren, was die Menschen in jenem Jahr 2019 bewegt, woran sie glauben, wie sie die Welt sehen."

Im Video geht Simin von Haus zu Haus, fotografiert die Menschen, hört ihnen zu. Die Interviews sind Teil des Videos. Zugleich fließen ihre Porträts in eine über einhundert Fotos umfassenden Serie ein. Diese trägt ebenfalls den Titel "Land of Dreams" und wird parallel zu dem Video ausgestellt. Es sind anmutige, aber auch bedrückende Fotografien. "Es kam mir darauf an, mit möglichst unterschiedlichen Menschen zu sprechen", sagt Shirin Neshat. "New Mexico ist sehr multikulturell. Dort leben weiße Amerikaner, Afroamerikaner, Menschen aus Lateinamerika, die Nachkommen der Indigenen. Alles haben sie ihre Träume".

Jenasis Greer, New Mexico. Aus der Fotoserie "Land of Dreams"
Jenasis Greer, New Mexico. Aus der Fotoserie "Land of Dreams"Bild: Shirin Neshat Courtesy the artist and Gladstone Gallery

Die Kurzfassung der Träume hat Neshat in arabischer Schrift - in ihr wird das moderne Persisch geschrieben - in die Porträts integriert, ebenso wie traditionelle persische bildliche Motive. "Das stellt eine Verbindung zu den Menschen jenes Landes her, aus dem ich komme, dem Iran", sagt Neshat. Träume, deutet der Bogen von den Personen aus dem Westen der USA zu deren Notation auf Persisch an, haben die Menschen überall auf der Welt.

Das iranische Labor zur "Traumverwertung" aus dem Video "Land of Dreams"
Das iranische Labor zur "Traumverwertung" aus dem Video "Land of Dreams"Bild: Shirin Neshat/Courtesy the artist and Gladstone Gallery/New York and Brussels

Anklänge an aktuelle Atomszenarien

Das Video hat eine zweite, fiktionale Ebene. Sichtbar wird sie durch einen zweiten Film, der parallel zu dem ersten, dem dokumentarischen, zu sehen ist. Darin wird eine unterirdische Anlage gezeigt, die an ein nukleares Forschungszentrum unter Tage erinnert. Darin sitzen Dutzende iranische Wissenschaftler, wie explizit erklärt wird, welche die dokumentierten Träume jener Einwohner New Mexicos analysieren und klassifizieren.

Die Szenen in der unterirdischen Anlage sind von kafkaesker Albtraumhaftigkeit: Ein großer Verwaltungsapparat ist damit beschäftigt, die Träume der Bürger zu analysieren und, so wird suggeriert, zu manipulieren. Dass iranische Forscher mit dieser Traumarbeit befasst sind, spielt zum einen auf das lange, inzwischen seit Jahrzehnten vergiftete Verhältnis zwischen Teheran und Washington an, und zum anderen auf das Misstrauen, das autoritären Regimen weltweit eigen ist. Sie werden Opfer der von ihnen selbst ausgeübten Repression. Äußerer Druck allein genügt nicht, deutet das Video an. Autoritäre Machthaber sind auf die Kontrolle der Bürger zwingend angewiesen.

"Es geht um die Träume während der Trump-Ära, in den USA, aber natürlich auch anderswo", sagt Shirin Neshat. Anderswo, der Gedanke drängt sich angesichts der iranischen Wissenschaftler auf, heißt: auch im Iran. "Das Regime im Iran ist rigoros und geht im Zweifel mit aller Härte vor", sagt die 2019 für ihr Engagement in Deutschland mit der Goethe-Medaille ausgezeichnete  Neshat. "Und doch ist es auch auf die Träume der Bürger angewiesen. Es muss ihnen auf gewisse Weise entsprechen. Denn es sind die Träume, über die das Regime die Bürger beeinflussen kann."

Die iranische Künstlerin und Filmemacherin Shirin Neshat
Die iranische Künstlerin und Filmemacherin Shirin NeshatBild: picture-alliance/dpa/EPA/J. M. Espinos

"Nur indirekt politisch"

Wie sich allerdings in jüngster Zeit immer stärker zeigt, hat die iranische Führung zunehmend Schwierigkeiten, das Denken und die Träume des Volkes in ihrem Sinne zu beeinflussen. Sie habe zum Land ihrer Geburt ein komplexes Verhältnis, sagt die 1957 geborene Neshat. Mitte der 1970er Jahre hatte sie das Land in Richtung USA verlassen, um dort zu studieren. Nach dem Sturz des Schahs blieb die einer bürgerlichen Familie entstammende junge Frau in Amerika. "Inzwischen lebe ich dort länger als im Land meiner Geburt", sagt sie. "Ich fühle mich als ein Menschen zwischen allen Stühlen, weder als Iranerin noch als Amerikanerin. Stattdessen fühle ich mich als Nomadin in der Welt."

Diese Situation prägt auch ihre Auseinandersetzung mit der alten Heimat. "Mein Arbeiten über den Iran haben gewissermaßen einen fiktionalen Charakter. Es sind keine Dokumentationen. Ohnehin geht es mir als Künstlerin nicht um unmittelbare Darstellungen. Es geht darum, politische und gesellschaftliche Prozesse zu verdichten. Insofern sind die Arbeiten nur auf indirekter Ebene politisch. Doch um Politik geht es mir immer. Mein Leben hat durch sie derart intensive Wendungen genommen, dass meine Kunst auf gewisse Weise immer politisch ist." 

USA Grenze zu Mexiko, Mauer
Reale Mauer an der Grenze von Mexiko und dem US-Bundesstaat New Mexico Bild: Getty Images/AFP/P. Ratje

Unerreichbare Freiheit

Am Ende des Videos versucht die junge Interviewerin Simin, die unterirdische Anlage zu verlassen (Artikelfoto). Abgestoßen von Zynismus der Bürokratie sucht sie die Freiheit, sie will nicht mehr spionieren. Als sie aus dem Inneren der Anlage nach draußen tritt, breitet sich vor ihr die grandiose Landschaft New Mexicos aus - erhaben, weit, grenzenlos. Aber dieses Reich der Freiheit bleibt für die junge Frau unzugänglich: Simin ist Teil des totalitären Apparats, von diesem psychologisch infiltriert und ihm geradezu hörig. Sie kehrt in die Unterwelt zurück.

Aber auch die Bewohner New Mexicos, die Simin fotografiert und interviewt hat, sind Gefangene ihrer Träume ebenso sehr wie ihrer Lebensumstände. "Sie haben wenig Chancen, sie befinden sich in einem Zustand der Ohnmacht", sagt Shirin Neshat.

Die Ausstellung "Land of Dreams" war bis zum 27. Januar in der New Yorker Gladstone Gallery zu sehen. Ende November wird "Land of Dreams" in Zusammenarbeit mit der Privatsammlung "Written Art Collection" in der Pinakothek der Moderne in München gezeigt.

 

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika