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Ampel-Aus trifft auf verunsichertes Deutschland

10. November 2024

Die Regierungskoalition ist zerbrochen, zu einem Zeitpunkt, an dem die Stimmung in Deutschland sowieso mies ist. Viele Menschen sind durch Kriege und Krisen verunsichert.

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Robert Habeck, Olaf Scholz und Christian Lindner gehen nebeneinander, alle in Mänteln
Nach drei Jahren in der Regierung entzweit: Robert Habeck, Olaf Scholz und Christian LindnerBild: Mike Schmidt/IMAGO

Nach dem Ampel-Aus könnte Deutschland eine Aufmunterung brauchen. Die Regierungskoalition aus SPD (Farbe rot), Grünen und FDP (Farbe gelb) ist jetzt zerbrochen, doch das Ampel-Bashing nach dem Motto "Die Ampel ist an allem schuld" war schon vorher weit verbreitet. Nach einer Allensbach-Umfrage vom September waren nur noch drei Prozent der Befragten davon überzeugt, dass die Regierung gut für das Land sei.

Vor vier Jahren erst hatte John Kampfner, früherer Auslandskorrespondent der Nachrichtenagentur Reuters in Deutschland, einen Bestseller gelandet mit dem Titel: "Warum es die Deutschen besser machen". Es war ein überschwängliches Lob für deutsche Politik in schwierigen Zeiten, und das ausgerechnet von einem Briten. Seine Botschaft: Deutschland navigiere erfolgreich durch schwierige Zeiten, und mache es viel besser, als es selbst denkt.

Der DW sagt er: "Ich kenne Deutschland seit mehr als 40 Jahren und ich kann mich nicht an irgendeine Unterhaltung mit einem deutschen Freund und Bekannten erinnern, der mir auf die Frage, wie es Deutschland geht, sagte: 'Uns geht es gut, danke'. Das sagen die Deutschen nicht. Ich halte die deutsche Selbstkritik, die viel mit dem Krieg und der Geschichte zu tun hat, für sehr positiv."

Mann (John Kampfner) schaut lächelnd in die Kamera
John Kampfner: "Deutschland sollte nicht so viel klagen, das Land hat sich sehr in den letzten Jahrzehnten geändert"Bild: Privat

Mit dem Bruch der Ampelkoalition dürfte aber das zunehmen, was Kampfner, der neben London auch in Berlin lebt, schon vorher auf die Nerven ging: die Tendenz in Deutschland zum Jammern.

"Die Deutschen sind zu bequem geworden"

Dabei nimmt die Lebenszufriedenheit der Deutschen nach Studien wie dem Glücksatlas 2024, dem Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung oder einer neuen Umfrage des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung kontinuierlich zu, nicht zuletzt weil die Corona-Pandemie im Großen und Ganzen überwunden ist und die Inflation sinkt. Kampfner erklärt, warum die Stimmung hierzulande viel schlechter ist als die Lage:

"Dieser Hang zu klagen ist immer auch eine Entschuldigung, um sich von der eigenen Verantwortung freizusprechen, eine Art Lähmung". Seine Diagnose: "Die Deutschen sind zu bequem geworden. Sie haben es immer sehr gut gehabt, es gab Stabilität, alles war solide. Aber es gibt keine Kultur der Innovation, dass man mal ein Risiko eingehen muss, etwas neu anfangen muss. Bei der Digitalisierung ist man zum Beispiel im Mittelalter stehengeblieben."

Der bulgarische Politologe Ivan Krastev hat es jüngst so auf den Punkt gebracht: Die letzten 30 Jahre seien für Deutschland so gut gewesen, dass man gerne immer so weiterleben wolle. Doch die Welt habe sich - Stichwort Ukraine-Krieg - radikal verändert. Nun seien ausgerechnet die erfolgsverwöhnten Deutschen gezwungen, ihren Lebensstil zu ändern - dabei sei doch ihre Mentalität, dass alles immer so bleiben soll, wie es ist.

Was braucht es aber, wenn man ein veränderungsunwilliges Land reformieren will? John Kampfner muss nicht lange überlegen: vor allem einen Bundeskanzler, der nicht Schiedsrichter ist, sondern Kapitän, also eine klare Nummer Eins. Vielleicht so wie am Mittwochabend, als er seine Entscheidung, Finanzminister Lindner zu entlassen, mit deutlichen Worten begründete. In der Vergangenheit, so der britische Autor, sei das viel zu selten geschehen: Das Problem der Regierung sei zu 80 bis 90 Prozent ein Scholz-Problem gewesen.

"Olaf Scholz war mit seiner Rede zur Zeitenwende sehr mutig, er ist ein Risiko eingegangen. Der Kanzler hat entschieden, dass Deutschland sehr viel radikal ändern muss. Danach ging seine Popularitätskurve hoch. Doch dann passierte zu wenig, auf zwei Schritte vor kamen zwei Schritte zurück. Dieser Regierung mangelt es an Führung."

Regierung sorgt durch schlechte Kommunikation für Verunsicherung

Wie genau kam es, dass die Deutschen so unzufrieden mit der Ampel-Regierung sind? Hedwig Richter, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München, sieht dies im DW-Interview auch in der schlechten Kommunikation der Regierung begründet. Sie habe die Bevölkerung wie kleine Kinder behandelt, denen alles Schwere vom Leib gehalten müsse und immer nur ängstlich auf die Demoskopie geschaut.

"Es wäre wichtig gewesen zu sagen, okay, wir leben in einer Demokratie, wir müssen mit den Menschen wie mit Erwachsenen reden. Wir müssen sagen, was Sache ist, was die Grünen dann auch eine Weile versucht haben, dass die Transformation auch schmerzvoll sein wird. Aber dass sich Veränderung absolut lohnt und dass jedes Verweigern dieser ökologischen Transformation und einer neuen Sicherheitspolitik noch viel teurer werden und unsere Sicherheit verschlingen wird."

Frau (Hedwig Richter) schaut in die Kamera
Hedwig Richter; "Die Bevölkerung weiß, dass wir uns in einer Polykrise befinden und sich die Welt radikal verändert"Bild: Eventpress Stauffenberg/picture alliance

Auch Richter sieht eine große Verantwortung für den Vertrauensverlust der Regierung bei Bundeskanzler Scholz, der etwa die Grünen bei dem Versuch, eine realistische Klimapolitik zu machen, im Regen habe stehen lassen. Doch die Versäumnisse, so die Historikerin, hätten ihren Ursprung schon viel früher, unter Bundeskanzlerin Merkel, die Deutschland ab 2005 regierte. Unter ihr habe sich das Land auf dem Polster, das man hatte, dem Wohlstand ausgeruht. Jetzt befinde sich Deutschland in einer Polykrise und trage die harten Konsequenzen.

"Wir haben bei der Sicherheit lange Zeit gedacht, wir Deutschen können das auslagern. Wir dachten auch, wir können die Migration einfach ignorieren, ohne eine echte Lösung finden zu müssen. Und wir haben gedacht, wir können die ganzen ökologischen Katastrophen einfach verschieben. Jetzt leben wir allerdings in einer Zeit, in der die ganzen Nebenfolgen unseres Tuns plötzlich auf uns zurückschlagen."

"Geschichten des Gelingens" erzählen

Der Soziologe Harald Welzer hatte deshalb die Idee, "Geschichten des Gelingens" zu erzählen. Dieser Gedanke steckt hinter der Stiftung Zukunftsfähigkeit FuturZwei, deren Mitbegründer und Direktor er ist. Walzer und seine Mitstreiter wollen damit nach vorne schauen, motivieren und zeigen, dass auch im Kleinen mit konstruktiven Ideen viel Veränderung möglich ist. Was ist seine Erklärung dafür, dass Deutschland so an der Vergangenheit klebt?

"Wir sind natürlich die Gewinner der Nachkriegszeit gewesen, insbesondere Westdeutschland. Das ist jetzt eine über zwei Generationen komplett anhaltende Geschichte von wirtschaftlichem Aufstieg und von Wohlstand, noch angefeuert durch die Globalisierung. Und alle haben gedacht, das geht jetzt immer so weiter. Wenn man aber erstmal in diesem Wohlstandsmodell festklebt, hat man natürlich auch gar keine Lust, da irgendetwas von abzugeben."

Medien befeuern die schlechte Stimmung

Welzer macht auch Medien für das Stimmungstief in Deutschland verantwortlich: Besonders konservative Medien wie Bild, Welt und die FAZ hätten sich mit einer Kampagne auf die Grünen eingeschossen. Ausgerechnet auf die Partei also, die mehr oder weniger als einzige darauf hinweisen, dass sich Deutschland im 21. Jahrhundert verändern müsse. "Und in dem Augenblick, in dem sie das konkretisieren, schreien alle, das sind Gängelei und Vorschriften. Und natürlich wird derjenige, der die Botschaft überbringt, am Ende verprügelt."

Mann mit Brille (Harald Welzer) schaut in die Kamera
Harald Welzer: "Die Kommunikation war falsch, man könne den Klimawandel bekämpfen, ohne sein Verhalten zu ändern"Bild: Debora Mittelstaedt

Welzer sagt der DW, es habe sich schon etwas gedreht in Deutschland. In den vergangenen zwei Jahren hätten ihm viele ältere Menschen gesagt: "Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben froh, dass ich schon so alt bin." Der Soziologe übersetzt dies als den "Verlust der gefühlten Selbstverständlichkeit", das zentrale Versprechen einer Gesellschaft wie der deutschen könne nicht mehr eingehalten werden:

"Euch wird nichts passieren, es wird immer Frieden herrschen, es wird linearen Fortschritt und Wohlstandszuwächse geben. Für das eigene Leben der Menschen bedeutet das: Es kann sein, dass ich Krebs bekomme, dass ich einen Unfall habe, dass ich eine Scheidung habe, aber die Welt wird immer so bleiben, wie sie mir jetzt zur Verfügung steht. Dieses Versprechen ist natürlich kaputt."

Ein Kennedy-Moment für Deutschland?

Um dem ein positives Narrativ entgegenzustellen, hat der Wirtschaftswissenschaftler Marcel Fratzscher jüngst einen deutschen Kennedy-Moment gefordert.

Kennedy hatte 1961 in seiner Antrittsrede zur US-Präsidentschaft gesagte: "Frage nicht, was Dein Land für Dich tun kann, sondern was Du für Dein Land machen kannst." Vielleicht ist es das, was Deutschland jetzt braucht: eine Erzählung, die das Land aus dem Jammertal herausholt und Aufbruchstimmung erzeugt.

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur