Ampel-Mode: Der Stil der neuen Koalitionäre
28. November 20211980 wurde ein junger SPD-Bundestagsabgeordneter von Vizepräsidentin Annemarie Renger ermahnt: "Wenn morgen die Wahl des Bundeskanzlers ist, bindest Du Dir aber eine Krawatte um, wie es sich gehört." Der Mann hieß Gerhard Schröder, wurde später selbst Bundeskanzler und fiel dann durch besonders elegante und teure Anzüge auf.
Olaf Scholz wurde im Wahlkampf die Frage gestellt: Wenn er Kanzler werde, wie halte er es dann mit dem Krawatte-Tragen. Seine ungemein verbindliche Antwort: "Meistens werde ich eine Krawatte tragen, aber nicht immer."
Tatsächlich hat sich der angehende Regierungschef selbst bei offiziellen Terminen als Finanzminister schon deutlich legerer gezeigt: Im Sommer entstieg er der Regierungsmaschine in Washington in T-Shirt und sandfarbener Hose.
Meist tritt er allerdings eher konservativ auf. Die Anzüge sind fast immer dunkelblau, wenn Krawatte, dann unauffällig, alles sehr dezent. Jens Lönneker bezeichnet Olaf Scholz als "Kleidungs-Opportunisten". Der Psychologe und Geschäftsführer der Markt- und Medienagentur rheingold-salon erklärt das im DW-Interview so: "Als Juso hatte er eine auffallend 'lange Matte', als Minister kleidete er sich tendenziell konservativ, heute ist eben en vogue, ohne Krawatte unterwegs zu sein."
"Indie-Band auf dem Weg zum Gig"
Bei den Sondierungsgesprächen zwischen Grünen und FDP war Liberalen-Chef Christian Lindner in weißen Turnschuhen zu sehen. Auf einem Selfie zeigten sich Lindner, FDP-Generalsekretär Volker Wissing und Grünen-Chef Robert Habeck alle in offenen weißen Hemden, die Grünen-Ko-Vorsitzende Annalena Baerbock im dunklen T-Shirt.
"Die Gesichter der Gewinnerparteien inszenieren einen Wechsel, einen Neubeginn, für den sie mit ihrer Person und ihrem Stil einstehen", sagt die Historikerin Claudia Gatzka in einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur.
Zu einem anderen Foto, auf dem die vier auf dem Weg zu den Sondierungsgesprächen zu sehen sind, sagt sie: "Sie sehen aus wie die Mitglieder einer Indie-Band, die gerade aus dem Flieger gestiegen sind und auf dem Weg sind zum Gig - zu ihren Fans."
Schlampig oder einfach normal?
Die ästhetischen Meinungen dazu gehen allerdings weit auseinander. Der Modemacher Wolfgang Joop grätzte über den Stil von Olaf Scholz und Robert Habeck kürzlich im "Spiegel": "Diese Leute versinken schon in optischer Ohnmacht, bevor sie überhaupt angetreten sind." Joop riet Habeck, sich doch wenigstens ab und zu einen Schlips umzulegen. Er giftete: "Wenn einer sich schlampig anzieht, denkt er auch schlampig."
Bernhard Roetzel ist da viel milder gestimmt, obwohl er als Autor mehrerer Stilbücher das Klassische bevorzugt: Die Bewertung hänge vom Maßstab ab, den man anlege, sagt er der Deutschen Welle.
"Im Vergleich zu (dem früheren Bundespräsidenten, d. Red.) Richard von Weizsäcker sind Olaf Scholz, Christian Lindner und Robert Habeck nicht passend gekleidet. Aber Richard von Weizsäcker stammte auch aus einer anderen Zeit." Heute sei in vielen Branchen ein "Businesslook" üblich. Verglichen damit sähen die drei Männer "normal" aus.
Baerbocks High Heels
Bei den Herren schält sich offenbar das offene weiße Hemd als koalitionäres Erkennungszeichen heraus. Psychologe Lönneker glaubt, es solle für die "weiße Weste" stehen: "Zugleich ist es ein Business-Klassiker und steht damit auch für Kompetenz und Erfahrung."
Das sieht auch Roetzel so, gibt aber zu bedenken: "Das weiße Hemd steht nur den wenigsten, und es bildet in seiner Förmlichkeit auch einen seltsamen Kontrast zur allgemeinen Schlunzigkeit der Politiker." Hellblau sei die bessere Wahl, auch weil es im Fernsehen besser aussehe.
Bisher war viel von den Männern die Rede. Und wie ist der Auftritt von Annalena Baerbock stilistisch zu bewerten? Sie bemühe sich "um eine moderne Kleidung, ohne den Mainstream zu verlassen", findet Lönneker.
Auch Roetzel glaubt, sie wolle keinesfalls aus dem Rahmen fallen: "Modisch im Sinne von trendgerecht ist ihre Kleidung nicht." Bei "Farbwahl, Passform und Proportioniertheit" sei ihre Wahl mal gelungen, mal nicht: "Kräftige Farben und Schwarz-Weiß stehen ihr gut, Pastellfarben hingegen weniger."
Seine Meinung: "Ihre High Heels lassen sie meines Erachtens altbacken aussehen, auch wenn vermutlich der gegenteilige Effekt angestrebt wird."
Allein mit ihren Schuhen ist Annalena Baerbock meilenwert von ihren Parteifreunden und -freundinnen in den 1980er Jahren entfernt, die mit Birkenstock-Sandalen und selbstgestrickten Pullovern im Bundestag saßen.
Der Merkel-Blazer
Angela Merkel war 2005 die erste Frau im Kanzleramt. Viel mehr als bei einem Mann wurden bei ihr anfangs Kleidung und Frisur kommentiert - oft negativ. Sehr früh wählte sie ein Outfit, das sie bis heute durchgehalten und so gut wie nie verändert hat: Dunkle Hose, unauffällige Schuhe und: Blazer.
Ähnlich wie die Raute bei der Handhaltung wurde der Blazer zu ihrem Markenzeichen, seine Farbe ändert sie ständig. Wie viele Blazer sie im Schrank hängen hat, dürften nur wenige Eingeweihte wissen. Kenner meinen sogar, mit der Farbe des Blazers vermittle sie politische Botschaften etwa von der Art: Au weia, sie trägt lachsfarben, der Gipfel muss schlecht ausgegangen sein!
Wirklich Schule hat Merkels Stil nicht gemacht. Aber er bildet einen Übergang. "Eine Frau im Hosenanzug im Bundestag war 1970 ein Skandal, heute dokumentiert ein Hosenanzug meist ein eher konservatives Auftreten", sagt der Stilexperte Jens Lönneker.
Unauffälligkeit hat Methode
Der Wandel hin zu mehr Lässigkeit hat längst Politiker aller Parteien erfasst. Lönneker nennt "eine Art förmliche Casualness aktuell das Maß der Dinge". Roetzel stimmt etwas resigniert zu: "Dieser Trend spiegelt die allgemeinen Gewohnheiten wider. Ich finde aber, dass etwas förmlichere Kleidung seriöser wirken würde. Vor allem auf der internationalen Bühne."
Gibt es in der Politik Beispiele für besonders guten oder schlechten Stil? Das Männermagazin "GQ" wählte 2016 den damaligen Bundesjustizminister Heiko Maas zum bestangezogenen Mann Deutschlands unter anderem wegen seiner "perfekt sitzenden Anzüge".
Lönneker glaubt aber, eine gewisse Unauffälligkeit habe bei Politikern Methode, denn es gehe meist darum, "eine möglichst breite Akzeptanz zu erreichen. Deswegen werden wir kaum positive oder negative Stilikonen in der Politik finden".
Beim Kapuzenpulli hört der Spaß auf
Sollte der kommende Kanzler Olaf Scholz doch auf eine gewisse Förmlichkeit seines Kabinetts Wert legen, hätte wohl Robert Habeck den weitesten Weg vor sich. Er trägt nie Krawatte und meist einen Dreitagebart.
Lönneker sieht Habeck damit aber voll im Trend: "Selbst Top-Manager tragen heute keine Krawatte mehr und dafür Sneakers und Dreitagebart. Es ist daher nicht davon auszugehen, dass Herr Habeck sein Outfit so schnell ändern wird. Anders wäre es, wenn er im Hoodie unterwegs sein würde - aber davon ist vermutlich nicht auszugehen."