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"Libyen zerstört sich selbst"

Kersten Knipp22. November 2014

Drei Jahre nach dem Sturz von Machthaber Gaddafi droht Libyen als Staat zu scheitern - konkurrierende Milizen und Dschihadisten setzen dem Land gleichermaßen zu. Besonders junge Libyer verfolgen eine radikale Agenda.

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Gefechte in Bengasi Libyen 23.10.2014 (Foto: AP)
Bild: picture-alliance/AP Photo/Mohammed Elsheiky

DW: Herr Dittmann, es scheint, als versinke Libyen im Chaos. Welchen Eindruck haben Sie von der derzeitigen Situation?

Andreas Dittmann: Bis vor wenigen Monaten haben wir noch diskutiert, ob Libyen ein "failing state", also ein scheiternder, oder bereits ein "failed state", ein bereits gescheiterter Staat sei. Leider ist die Frage inzwischen beantwortet, denn Libyen existiert als Staat kaum mehr. Das Land existiert noch auf der Karte, aber die staatlichen Organisationen sind längst nicht mehr in der Lage, ihre Aufgaben wahrzunehmen.

Was genau setzt dem Land zu?

Libyen sieht sich mehreren Konflikten zugleich gegenüber. Das eine ist der uralte Konflikt östliches gegen westliches Libyen, also Tripolitanien gegen Cyrenaica. Das ist der Konflikt der stärker islamisch und teils islamistisch ausgerichteten östlichen Bereiche gegen den zum Teil noch an säkularen Werten ausgerichteten Großraum im Westen.

Und entlang dieser Linie verlaufen dann auch die anderen Konflikte?

Ja. In Libyen gibt es eine sehr alte, auf die italienische Besatzungszeit zurückgehende, religiöse Opposition. Damals galten sie als religiöse Freiheitskämpfer. Heute würden wir diese Bewegung als "islamistisch" bezeichnen. Deren Mitglieder stammen hauptsächlich aus dem östlichen Libyen. Für Gaddafi war sie während seiner Regierungszeit die gefährlichste Opposition. Zwar hatte Gaddafi in weiten Teilen die Scharia eingeführt und viele islamische Gesetze umgesetzt. Aber das war religiösen Eiferern immer noch nicht genug. Diese Motive wie auch die ideologische Ausrichtung entlang der erwähnten regionalen Linien existieren auch nach der Revolution.

Andreas Dittmann (Foto: privat)
Andreas DittmannBild: Andreas Dittmann

Nur, dass sich die Konflikte nun noch einmal verschärft haben.

Und zwar deshalb, weil die damaligen Führer unter jüngeren, viel radikaleren Islamisten kein sonderlich hohes Ansehen mehr haben. Die Jüngeren hängen dem "Islamischen Staat" (IS) und seiner bereits im Namen angedeuteten Ideologie an: Sie streben eine geographisch unbegrenzte Herrschaft des Islam an. Viele von ihnen haben in Syrien und im Irak für den IS gekämpft. Sie träumen davon, das Kalifat auch auf libyschem Boden zu verwirklichen. Es handelt sich also um einen religiösen, einen politischen und zugleich einen Generationenkonflikt. Für die jungen Leute spielt Religion eine sehr große Rolle. Sie ist keineswegs ein Deckmäntelchen, hinter dem sich andere Interessen verbergen.

Immer wieder wird darüber berichtet, auch ehemalige Mitglieder des Gaddafi-Regimes hätten sich mit den Dschihadisten verbündet. Trifft das zu?

Ja. Das Gleiche geschieht ja auch im Irak, wo sich ehemalige Getreue von Saddam Hussein dem IS angeschlossen haben. Das tun sie nicht aus ideologischen Motiven. Vielmehr nutzen beide das Chaos der zerfallenden Staaten, um die Zukunft in ihrem Sinne zu formen. Sowohl Saddam Hussein als auch Muammar al-Gaddafi betrachteten als ihren jeweils größten Gegner die islamische Opposition. Heute hingegen arbeiten die beiden Gruppen in beiden Ländern zusammen. Das sind natürlich nur Bündnisse auf Zeit. Beide Gruppen eint das Ziel, die Entstehung eines Staates nach westlich-demokratischem Vorbild zu verhindern.

Rebellen in Libyen (Symbolbild)
Kämpfe zwischen Rebellen in LibyenBild: picture-alliance/dpa/C. Petit Tesson

Wie sehen Sie denn die Zukunft des Landes? Kann sich Libyen überhaupt noch in Richtung einer gedeihlichen Zukunft entwickeln?

Die grundsätzlichen Entwicklungsvoraussetzungen sind für Libyen eigentlich sehr gut. Von all den sechs Ländern, in denen die Arabellion stattgefunden hat, hat Libyen sogar die mit Abstand besten Voraussetzungen. Denn das Land hat eine relativ geringe Gesamtbevölkerung von gut sechs Millionen Einwohnern. Zudem hat das Land Ölvorräte, die noch für rund sechseinhalb Jahrzehnte reichen. Tatsächlich funktioniert der Staat aber nur noch auf sehr bescheidenem Niveau. Der libysche Staat hat die Kontrolle über Teile der Landesfläche verloren. So ist der gesamte südliche Teil nicht mehr zu kontrollieren. Die Polizei kann sich dort nicht mehr behaupten. Auch das Militär ist geschwächt oder besser, gebunden durch die Auseinandersetzungen mit den Milizen. Ebenso ist es durch die Spannungen zwischen West- und Ostlibyen gebunden. Andere Staatsaufgaben wie etwa Bildung und Gesundheit werden derzeit stark vernachlässigt. Zugleich werden die politischen Erfolge – die Umsetzung demokratischer Wahlen, die Fähigkeit, Präsidenten ins Amt zu setzen – von den Milizen torpediert. Wenn sie mit gewissen Wahlergebnissen nicht einverstanden sind, erkennen sie diese nicht an und versuchen ihre Vorstellungen mit Gewalt durchzusetzen.

Das heißt, Libyen scheitert an sich selbst?

Ja. Sicher haben auch äußere Faktoren dazu beigetragen, dass Gaddafi relativ schnell gestürzt wurde. Aber das, was Libyen derzeit falsch macht, ist gewissermaßen "home made", liegt also in seiner eigenen Verantwortung. Man darf angesichts der derzeitigen Entwicklung nicht immer nur auf äußere Einflüsse verweisen. Im Moment machen die Libyer ihr eigenes Land selbst kaputt.

Andreas Dittmann ist Professor für Anthropogeographie am Institut für Geographie der Universität Gießen.