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Andreev: "Grass war frech und stark"

Heike Mund16. April 2015

Die Bücher von Günter Grass sind auch auf Bulgarisch erschienen. Der Übersetzer Alexander Andreev, Leiter der bulgarischen DW-Redaktion, erinnert sich an die Wortgewalt des deutschen Autors.

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Alexander Andreev, Leiter der bulgarischen Redaktion bei der DW und Übersetzer
Bild: DW/H. Mund

DW: Gibt es eigentlich einen typischen Grass-Stil in allen seinen Büchern oder hat das je nach Buch gewechselt? Wie haben Sie das als Übersetzer erlebt?

Günter Grass hat das Spielen geliebt – das Spielen mit dem Text und mit unterschiedlichen Welten, Geschichten, Hintergründen. Er hat auch etwas Chamäleonhaftes gehabt. Man nehme das Buch "Mein Jahrhundert". Da hat er 100 verschiedene Protagonisten gehabt. Denn das sind 100 Erzählungen, und einige Erzählungen schrieb er als Günter Grass, aber in mehreren Erzählungen hatte er andere Ich-Erzähler. Und da musste er sich ändern. Da musste er jedes Mal aus einem anderen Blickwinkel, aus einer anderen Perspektive erzählen.

Wenn man sein Gesamtwerk betrachtet, dann stellt man fest: Es gibt eine klare Grass'sche Stimme, die auch immer erkennbar ist, das Plastische in seiner Sprache. Daran merkt man auch, dass er Bildhauer war. Er hat immer die Sprache geknetet, auseinander gezogen und dadurch schöne Sprachfiguren produziert, die wirklich raumfüllend sind. Das ist wie bei Michelangelo, man kann sie von allen Seiten beobachten und entdeckt immer wieder etwas Neues.

Viele Grass-Kenner behaupten, seine Geschichten sind wie diese russischen Puppen – die heißen Matrjoschka auf Russisch. Auf Deutsch nennt man sie Babuschka. Man öffnet eine Puppe, da kommt eine Weitere heraus, eine Weitere und noch eine Weitere. Und erst die letzte Puppe – das ganz kleine Püppchen, da steckt die Kernaussage drin, die Botschaft von Grass. Man muss dafür als Leser und Übersetzer sehr viel Geduld mitbringen und in diesem ganzen Spiel aktiv mitmachen, bis die Kernbotschaft kommt.

Bulgarische Ausgabe von Das Treffen in Telgte von Günter Grass
Bulgarischer Buchtitel von "Das Treffen in Telgte"Bild: DW/H. Mund

Was für eine Art zu schreiben, hat Grass bevorzugt? War er jemand, der komplizierte Satzkonstruktionen liebte? Können Sie seine handwerkliche Art beschreiben?

Er liebte verschachtelte Sätze und komplizierte Konstruktionen, aber er machte das spielerisch. Er tat das nicht, um anzugeben oder um zu sagen: "Oh, wie intellektuell ich bin und wie klug und wie blöd die Leser und die Übersetzer sind" Nein, er machte es eben spielerisch, und das macht dem Übersetzer auch viel Spaß. Aber er konnte auch viel einfacher schreiben, auf die Art und Weise eines Hemingway, mit knappen, sehr prägnanten Sätzen.

In den Werken von Grass ist es ganz unterschiedlich. Zum Beispiel in meinem Lieblingsroman von ihm, "Das Treffen in Telgte", da ist es eine sehr barocke Sprache. Die Handlung spielt im 17. Jahrhundert, und es gibt unterschiedliche deutsche Mundarten, mit denen er sehr virtuos umgeht. Und in der barocken Sprache ist er natürlich sehr ausführlich und macht für unseren heutigen Geschmack etwas viel des Guten. Also zu viele Details, Rosetten und barocke Verzierungen. Aber das war auch seine Intention.

Ist er auch als Schriftsteller so detailverliebt und versessen mit seinen Personen, wie ein Bildhauer, also dass er jede einzelne kleine Figur gut herausmeißelt?

Wir haben in den Übersetzer-Seminaren, die ich mehrfach mitgemacht habe mit Günter Grass und seinen Lektoren, Wort für Wort alles sehr aufmerksam gelesen und manchmal recht winzig kleine Details analysiert. Dabei haben wir festgestellt, dass er wirklich sehr penibel an den Details gearbeitet hat. Um ehrlich zu sein, in seinen späteren Jahren hatte er auch Rechercheure, die sehr viel Recherchearbeit für ihn gemacht haben. Zum Beispiel wie sah eine Seemannsuniform in der Sowjetarmee im Zweiten Weltkrieg aus? Oder in welcher Schrift wurden die Straßen in Danzig beschriftet?

Aber da waren er und seine Lektoren wirklich auch sehr strikt, zum Teil sogar besessen. Bei so einem Roman braucht man das. Wenn man sich auskennt und plötzlich einen Fehler entdeckt, dann nimmt man den ganzen Autor nicht mehr so ernst.

Regal bei Alexander Andreev, Leiter der bulgarischen Redaktion bei der DW und Übersetzer
Die Buchtitel von Grass wurden weltweit in viele Sprachen übersetztBild: DW/H. Mund

Sein erfolgreichstes und berühmtestes Buch "Die Blechtrommel" ist in 28 Sprachen übersetzt worden. Was interessiert die Leser in Osteuropa und in Bulgarien überhaupt an diesem Grass? Was ist so besonders an ihm, dass er dort so gern gelesen wird?

Man muss zuerst sagen, dass die ersten Bücher von Günter Grass in Bulgarien noch vor der Wende veröffentlich worden sind. Damals war in Osteuropa das Interesse an "westeuropäischer Literatur" äußerst stark und intensiv – aus dem einfachen Grund, dass man keinen Zugang hatte. Und man wollte dort diese Literatur kennenlernen, wollte diese Bücher lesen. Es gab großes Interesse für die Bücher, für die Autoren und auch für die ganze Welt des Westens, die dahinter steckte. Deswegen hatte das erste Grass-Buch, was ich ins Bulgarische übersetzt habe, damals eine riesige Auflage gehabt.

Es war die Neugierde der Leser, aber Günter Grass war damals auch ein Name unter Literaturkennern. Man wusste, dass man neben Böll, Walser und Siegried Lenz da auch eine feste Größe in der westdeutschen Literatur kennenlernte. Und natürlich waren die Themen seiner Bücher auch für die osteuropäische Öffentlichkeit sehr spannend. Krieg und Nachkriegszeit, der Eiserne Vorhang und die Teilung Europas. Das alles war für uns damals sehr, sehr interessant.

Nach dem Mauerfall ist eine total umgekehrte Entwicklung eingetreten – nicht nur in Bulgarien, sondern auch in anderen Ländern Osteuropas. Plötzlich war der Buchmarkt überflutet mit Billigliteratur, mit Krimis und Action und "Sex and Violence". Einige Jahre lang hat man das auch gekauft und gelesen, aber dann entstand plötzlich eine Leere, ein Vakuum, und man wollte wieder richtige schöngeistige Literatur lesen. Ein paar kleine Verlage oder größere Verlagshäuser haben darauf reagiert und angefangen, Mitte der 1990er Jahre gute Literatur aus unterschiedlichen Sprachen zu übersetzen und zu veröffentlichen, unter anderem auch von Günter Grass.

Deutschland Fritz J. Raddatz Leben
Bundesdeutsche Literaturstars: Siegfried Lenz (li), Günter Grass und Feuilletonist Fritz J. RaddatzBild: picture-alliance/dpa/H.-J. Kaffsack

Grass war als einer der jungen Wilden in der Gruppe 47 einer der Wortführer und wollte auch den Bruch mit der etablierten Nachkriegsliteratur. Inwiefern hat er anders geschrieben als die deutschen Nachkriegsschriftsteller vorher? Was war so anders an diesem Autor Günter Grass?

Ich glaube, seine Energie war anders. Er hatte in seinen früheren Werken eine unheimliche Energie - auch für das Spielerische, das ich erwähnt habe. Er spielte mit der Sprache. Er spielte mit der Geschichte, und er spielte auch mit dem Leser. Günter Grass war frech, stark, energisch, sehr suggestiv. Im Vergleich dazu waren manche deutsche Autoren aus dieser Zeit für meine Begriffe ein bisschen blass, fast anämisch sogar.

Heißt das, dass er seine Leser auch herausgefordert und provoziert hat?

Auf jeden Fall. Er hat den Leser nicht nur herausgefordert, er hat den Leser manchmal beschmissen, geschlagen. Mit seiner Wortgewalt. Und das ist eine Herausforderung, die ein guter Leser, jemand, der die Literatur liebt, gerne annimmt.

Das Interview führte Heike Mund.

Alexander Andreev ist seit 1982 Übersetzer (u.a. Grass, Thomas Bernhard) und übersetzt ins Bulgarische. Er hat zahlreiche Preise bekommen: u.a. den Großen Übersetzerpreis in Bulgarien für seine Übersetzung von Grass. Sein erstes Grass-Buch, das er übersetzt hat, war ein Sammelband mit Erzählungen ("Katz und Maus", "Das Treffen in Telgte" und "Örtlich betäubt"), der in einem bulgarischen Verlag erschienen ist. Damals war Grass dort sehr populär, da man nur wenig westeuropäische Literatur in Bulgarien bekommen konnte.