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Politik

Anerkennung für die Opfer des Paragrafen 175

Jefferson Chase
28. April 2017

An diesem Freitag beginnt im Bundestag die Debatte, ob Homosexuelle, die unter dem Paragrafen 175 verurteilt wurden, rehabilitiert und entschädigt werden. Es ist eine symbolische Geste, aber eine, die die Opfer schätzen.

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Symbolbild Homosexualität Deutschland Bundesrat in Berlin
Bild: picture-alliance/dpa/G. Fischer

Ein Mann, der den Oberschenkel eines anderen Mannes berührt - was heute wohl für die meisten kein Thema ist und schon gar kein schweres Verbrechen - wurde vor Jahrzehnten noch ganz anders be- und manchmal verurteilt.

Der 74-jährige Heinz Schmitz erinnert sich daran, dass er für ein solches Verhalten zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt wurde. "Die einzelnen Strafpunkte sind so dermaßen lächerlich, dass man sich es kaum vorstellen konnte. Der erste ist der Lächerlichste: 'An einem gewissen Tag saß Heinz Schmitz im Kino. Ein neben ihm sitzender Mann strich ihm in wollüstiger Absicht über den Oberschenkel, was dieser erwiderte'."

Das war 1961 kein Kavaliersdelikt. Schmitz wurde mit 19 Jahren verurteilt, weil er gegen den westdeutschen Paragrafen 175 verstoßen hatte. Obwohl die Strafe zur Bewährung ausgesetzt wurde und er zum Glück nur ein paar Wochenenden im Gefängnis verbringen musste, lebte Schmitz seitdem mit der Furcht, dass seine Sexualität für sein weiteres Leben ein Problem bedeuten würde.

"Was passiert jetzt? Ich hatte keine Vorstellung. Komme ich ins Gefängnis? Ich habe nur gezittert, vor Angst. Angst, die ganzen Jahre waren von Angst geprägt. Schon damals hatte ich Schaden am Leben, an meiner Seele, an allem. Es war nicht schön. Es war kein Erleben. In genau diesen Jahren wo man sich aufbaut und sich entwickelt", sagt Schmitz.

Heinz Schmitz -  Opfer des Paragraphen 175
Heinz Schmitz - Opfer des Paragraphen 175Bild: DW/J. Chase

Er ist ist einer von 50.000 Männern, die wegen des Paragrafen 175 in der Bundesrepublik verurteilt wurden. Etwa 5000 von ihnen leben noch und könnten eine Entschädigung verlangen, wenn der Bundestag das vom Justizministerium vorgeschlagene Rehabilitationsgesetz verabschiedet. 

Ein Relikt aus dem Nationalsozialismus

Der Paragraf 175 in seiner weitestgehenden Auslegung wurde während der Nazi-Diktatur verfasst. In dieser Zeit wurden Homosexuelle massiv verfolgt. Die Bundesrepublik Deutschland übernahm das Gesetz nach dem Krieg unverändert. Die DDR ging weitaus liberaler mit Homosexuellen um.

Heinz Schmitz hatte das Pech, dass ihn die ganze Härte des Gesetzes während des einzigen Zeitraums (1957-1961) traf, als Deutschland von der konservativen CDU-CSU allein regiert wurde. Die beiden Schwesterparteien, die beide das Wort "christlich" in ihrem Namen haben, wollten den Paragrafen 175 so streng wie möglich auslegen. Zudem hatten viele der Richter der Bundesrepublik ihre Karriere während des Nationalsozialismus begonnen.

"In der frühen Bundesrepublik, einem demokratischen Rechtsstaat, sind genauso viele homosexuellen Männer angeklagt und verurteilt worden wie in der NS-Diktatur", sagt Michael Schwartz vom Münchner Institut für Zeitgeschichte.

Deutschlands Strafgesetzbuch wurde erst 1969 reformiert, aber der Paragraf 175 wurde erst 1994, vier Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, vollständig aufgehoben.

Das Ende von Karrieren und sozialem Leben

Heinz Schmitz' Strafe wurde auf zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Er heiratete, hatte Kinder und machte Karriere als Industriekaufmann in einer Textilfirma. Seine sexuelle Orientierung musste er verstecken. Einmal, so erinnert er sich, versuchte jemand, ihn anonym anzuschwärzen, aber zum Glück war sein Chef damals im Urlaub. So erlitt er als verurteilter Homosexueller keine Nachteile.

"Es war zum größten Teil das berufliche und soziale Aus. Wenn nur die Polizei vorfuhr, in ihrem Ausbildungsbetrieb, war der Ausbildungsplatz verloren, und da war nicht mal ein Strafverfahren drin. Leute sind von der Uni geflogen, manche Leute konnten nicht promovieren, Beamte sind aus dem Schuldienst, Militär und Polizei entfernt worden. Man konnte nicht das berufliche Leben leben, das man sich vorgenommen hat. Deswegen leben überdurchschnittlich viele der Männer, die wir finden, in Armut", sagt Jörg Litwinschuh, stellvertretender Vorsitzender der Magnus-Hirschfeld-Stiftung.

Historische Unterlagen zur Anklage wegen das Paragrafen 175
Historische Unterlagen zur Anklage wegen das Paragrafen 175Bild: DW/J. Chase

"Es freut mich, dass er (gemeint ist Schmitz) Glück gehabt hat, mit seinem Arbeitgeber. Das ist nicht selbstverständlich gewesen. Wir hatten gerade in Baden-Württemberg einen vergleichbaren Fall eines jungen Menschen, der in der Kommunalverwaltung in einer Ausbildung war. Nachdem ein Ermittlungsverfahren eröffnet wurde, wurde der Stuttgarter Bürgermeister als sein Arbeitgeber informiert, und er hat die sofortige Entlassung aus der Ausbildung verfügt. Das ist fast zeitgleich zu den Geschehnissen mit Herrn Schmitz", sagt Schwartz. 

Die tatsächliche Zahl derjenigen, die vom Paragraf 175 betroffen waren, liege weit höher als die 50.000, fügt Schwartz hinzu. Schon der bloße Verdacht auf Homosexualität konnte schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen. Die Polizei ging selten bei ihren Ermittlungen mit Bedacht und anonym vor. Einige dieser betroffenen Menschen – es existiert keine gültige Statistik – haben schließlich Selbstmord begangen.

"Diese Verfolgung durch einen demokratischen Staat, der eigentlich die Bürgerrechte respektieren sollte, forderte wirkliche Opfer", so Historiker Schwartz.

Symbolische Anerkennung

Das nun im Bundestag diskutierte Gesetz würde alle, die nach Paragraf 175 verurteilt wurden, mit 3000 Euro zuzüglich etwa 1500 Euro für jedes Jahr, das im Gefängnis verbracht wurde, entschädigen.

Verglichen mit den tatsächlichen Schäden sind die Beträge nur "symbolisch", so Jörg Litwinschuh.  Dennoch ist er mit dem Gesetzesvorschlag zufrieden, da es den diskriminierten Opfern die Würde wieder zurückgebe und deren Leiden anerkenne.

Gerade in den spießigen 1950er Jahren hatten es Homosexuelle schwe
Gerade in den spießigen 1950er Jahren hatten es Homosexuelle schwerBild: Staatsarchiv Hamburg

Schmitz - der inzwischen ein Pseudonym benutzt, nachdem Familienmitglieder nach dem ersten Mal, als er seine Geschichte öffentlich erzählte, Drohungen erhielten - stimmt dem zu. Immer noch knetet er emotional vor Aufregung seine Hände, wenn er über den Gesetzesvorschlag nachdenkt, der bald Wirklichkeit werden könnte. "Genugtuung. Genugtuung, dass ich mitgearbeitet habe, dass das durchgesetzt wurde. Dass ich als kleiner einzelner Mensch etwas dazu beigetragen habe. Es ist für mich eine Wahnsinns-Genugtuung, Freude, Befriedigung - wie man es nennen will", sagt der Rentner.

Am Freitagmorgen begleiten Schmitz und vier weitere Männer, die nach Paragraf 175 verurteilt worden waren, den deutschen Justizminister Heiko Maas zum Berliner Denkmal für Homosexuelle, die unter dem Nationalsozialismus verfolgt wurden. Anschließend werden sie zum Bundestag gehen, um zu sehen, wie die Gesetzgeber das Thema diskutieren, das ihnen die volle rechtliche Rehabilitation bringen würde.