Angst - Gift für die Seele? Antworten der Theologie
13. Oktober 2005Eine eindeutige wissenschaftliche Definition von Angst gibt es nicht. Zwar wird der Begriff vielfach benutzt, doch hat jede Fachrichtung, besonders die Psychiatrie, aber auch die Theologie und die Philosophie ihre eigene Betonung. Angst ist Furcht ohne Bedrohung, heißt es. Dieser Sprachgebrauch habe sich etabliert, sagt Prof. Joachim Piepke, Theologe und Völkerkundler am katholischen Anthropos-Institut in Bonn.
Doch verbindlich sei diese Unterscheidung nicht. "Ich kann Angst haben vor einem Hund. Wenn sich dieses Gefühl auf ein bestimmtes definierbares Objekt bezieht, dann sprechen wir eher von Furcht. Wenn es sich um Angst handelt, dann meinen wir mehr diese Existenzangst, die der Mensch hat. Das ist ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit, der Verlorenheit oder der Sinnlosigkeit, die dann ein solches Gefühl der Ungeborgenheit hervorbringt, die wir Angst nennen."
Existenzangst: ein Phänomen der Moderne
Der Theologe weist darauf hin, dass zum Beispiel in der Bibel viel von Furcht die Rede ist. Doch in unserem heutigen Sprachgebrauch habe die dort beschriebene Furcht kaum mehr eine Entsprechung. "Die Bibel kennt nicht die existentielle Angst, die Menschen heute haben, also die Angst vor der Zukunft", erklärt Piepke. "Der biblische Mensch ist eingebunden in einen Vertrauensbereich und eine Nähe Gottes selbst. Von daher stellt er nicht diese Fragen, aus der dann die Angst kommt. Also beispielsweise die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Lebens. Oder die Frage, was ich in diesem Leben überhaupt zu tun habe."
Die Angst, die in der Bibel die zentrale Rolle spielt, ist die Furcht, aus dem harmonischen Verhältnis zu Gott herauszufallen. Das erste und bekannteste Beispiel dafür ist die Schilderung des Sündenfalles im Buch Genesis, so Piepke: "In dem Moment, wo Adam und Eva sich gegenüber Gott versündigt haben, also sein Tabu gebrochen haben, fühlen sie sich aus der Harmonie Gottes ausgeschlossen. Sie fürchten sich vor ihm. Das ist ein typisches Phänomen, das die ganze Bibel durchzieht."
Kultischer Umgang mit der Angst
Das Phänomen "Angst" hat Joachim Piepke nicht nur in der Bibel studiert. Als Völkerkundler hat er lange Zeit in Südamerika verbracht und dort Religionen und Kulte untersucht. "Ich war zehn Jahre lang in Brasilien tätig und habe Feldforschung betrieben, unter anderem in Rio de Janeiro", erzählt Piepke. "Dort löst man das Problem der Angst dadurch, dass man sich eine transzendente Welt vorstellt, in die der Mensch total eingebunden ist, so dass seine Verunsicherung in dieser Welt durch transzendente Mächte aufgehoben wird."
Durch kultische Handlungen kann er die transzendentalen Mächte, die Kräfte der nicht sichtbaren Welt beeinflussen, so dass sie ihm in seiner Welt Sicherheit geben. "Die ärmeren Leute haben keine Gelegenheit, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen", sagt Piepke. "Dann kommt eben die Existenzangst. Man geht zum kultischen Heiler. Und der versucht nun, herauszufinden, was die Ursache ist, wer dahinter steckt, welche Mächte jetzt in diesem Falle in Anspruch genommen werden müssen." Die Rezepte sind dann meist Speiseopfer.
Heilungsrituale im Christentum
Eingebunden in eine höhere Ordnung ist auch der gläubige Christ. Für ihn ist Gott die Instanz, die ihn die Angst besiegen lässt, erklärt Piepke. "Im Christentum geht es nicht um die Beeinflussung Gottes durch materielle Kulthandlungen, sondern man wendet sich an Gott durch Gebet. Es ist also mehr ein geistiger Akt der Beeinflussung."
Aber auch das Christentum hat sich seine Rituale bewahrt, zum Beispiel im Handauflegen und im Heilungsbeten. Die Bibel erzählt von der Furcht, aber sie gibt dem Menschen gleichzeitig ein Instrument, sie zu bewältigen. Besonders die Psalmen stellen solche Instrumente dar, sagt Piepke. Auch wenn dort von der Erschütterung des Glaubens die Rede ist, so sind die Psalmen nach Meinung des Theologen Ausdruck tiefster Gläubigkeit und damit ein Mittel, sogar die Todesangst zu überwinden.
Piepke hat ein Beispiel: "Psalm 22: Das ist der Psalm, den Jesus am Kreuz betet, in der letzten Stunde vor dem Sterben. 'Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist fern meinem schreienden Wort, meiner Klage. Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort. Ich rufe bei Nacht und ich finde doch keine Ruhe.' Und dann kommt die Wende schon: 'Aber du bist heilig, du thronst über dem Lobpreis, Israel, dir haben unsere Väter vertraut. Sie haben vertraut, du hast sie gerettet. Zu dir riefen sie und wurden befreit, dir vertrauten sie und wurden nicht zu Schande.' Es ist auf der einen Seite immer dieses emotionale Sich-Ausschütten, das Klagen, das Verzweifeln. Aber dann wieder die Rückerinnerung: Ich bin ja doch in dir geborgen. Ich glaube ja doch an dich."
Während der Theologe Piepke bibelhistorisch den Umgang mit der Angst untersucht, schauen Mediziner und Psychiater aus einem anderen Blickwinkel auf das Phänomen der Angst. Dazu mehr im zweiten Teil.