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Europa: Angst vor Atomunfall

10. Februar 2017

Die Explosion im französischen Atomkraftwerk Flamanville schreckt auf. Aber auch Pannen in anderen Reaktoren und Vertuschungen beunruhigen. Viele Bürger wollen die Abschaltung von alten AKW in Europa. Mit Erfolg?

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Belgien Internationaler Protest gegen Atomkraft
Bild: DW/G. Rueter

"Auch wir könnten in die gleiche Situation kommen wie die Menschen in Fukushima. Das ist realistisch und bedrohlich", sagt Josie Bockholt. Deshalb protestiert sie gegen den belgischen Atomreaktor in Tihange. Bockholt lebt in Aachen, 60 Kilometer von Tihange entfernt. In dem Reaktorkern wurden tausende Haarrisse festgestellt. Zudem sorgen Pannen und Abschaltungen immer wieder für Schlagzeilen.

Mit ihrer Sorge ist die Kabarettistin nicht allein: In Aachen gibt es parteiübergreifenden Protest gegen das marode Kraftwerk. Die 250.000 Einwohner zählende Stadt, hundert grenznahe Kommunen und die Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz fordern die Abschaltung des 40 Jahre alten Kraftwerks und klagen nun gemeinsam dafür vor Gericht.

Käme es in Tihange zu einem großen atomaren Unfall, dann wären auch Deutschland und die Niederlanden betroffen. Bei ungünstiger Wetterlage wäre Aachen total verstrahlt - "mit einer Wahrscheinlichkeit von zehn Prozent wird Aachen dann unbewohnbar", sagt Wolfgang Renneberg, ehemals Leiter der Abteilung Reaktorsicherheit des Bundesumweltministeriums bei der Vorstellung einer Risikostudie  im Auftrag der Städteregion Aachen.

Belgien Umweltministerin Barbara Hendricks und Vize-Premierminister Jan Jambon
Umweltministerin Barbara Hendricks und Belgiens Vize-Premier Jan Jabon vereinbaren Informationsaustausch zur nuklearen Sicherheit.Bild: picture-alliance/dpa/BELGA/T. Roge

Russisch Roulette

"Der Weiterbetrieb der belgischen Schrottreaktoren ist Russisch Roulette", sagt Oliver Krischer, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Grünen im Bundestag und Abgeordneter aus der Region Düren zwischen Aachen und Köln. 

Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) vereinbarte mit der belgischen Regierung im Dezember ein Abkommen zur nuklearen Sicherheit. Eine Kommission soll sich nun über die Sicherheitslage der Kraftwerke austauschen. "Wir schaffen durch eine solche Kommission nicht mehr Sicherheit, aber wir bekommen einen regelmäßigen Informationsaustausch", kommentierte Hendricks das Abkommen.

Die Abschaltung der umstrittenen belgischen Reaktoren in Tihange und Doel fordert Hendricks zwar auch, doch bei ihren belgischen Kollegen stößt sie bisher auf Granit: Die Kontrolle und Verantwortung über Sicherheit und Weiterbetrieb unterliegt allein der belgischen Regierung. Der Anteil von Atomstrom in Belgien liegt bei rund 50 Prozent - die Abschaltung der Reaktoren wäre für die Energieversorgung des Landes ein Problem. 

Infografik Karte Atomkraftwerke in Europa

Alte Reaktoren werden zur Gefahr

132 Reaktoren sind in der EU und in der Schweiz noch am Netz, davon fast die Hälfte (58) in Frankreich. Ausgelegt wurden die Kraftwerke auf eine Betriebsdauer von 30 bis 35 Jahren, jetzt sind sie im Schnitt 32 Jahre alt.

Neben dem hohen Alter, der damit verbundenen Materialermüdung und der Häufung von Störfällen sorgen noch andere Vorkommnisse für Entsetzen bei Atomexperten und in der Bevölkerung: mangelhafte Bauteile, der Betrieb mit verminderter Sicherheit, Vertuschungen und lasche Kontrollen von Behörden. "Die Regierungen machen die Augen zu, so lange das geht, und schauen nur auf die kurzfristige Energieversorgung", warnt Susanne Neubronner von Greenpeace. "Das ist eine tickende Zeitbombe, macht mir Angst und ist eine akute Gefahr für Millionen Europäer."

Käme es zu einer Atomkatastrophe, so wären auch die finanziellen Schäden immens. Nach einer Studie der Versicherungsforen Leipzig lägen diese in Europa zwischen 150 und 6363 Milliarden Euro. Für einen Atomunfall haften die Energiekonzerne jedoch nur marginal: der französische Energiekonzern EDF beispielsweise mit 0,7 Milliarden Euro und damit zwischen 0,5 bis 0,02 Prozent.

Greenpeace Protest gegen Atommeiler Fessenheim
Bald vom Netz? Die zwei französischen Reaktoren in Fessenheim gingen vor 40 Jahren in Betrieb. Bild: Bente Stachowske/Greenpeace/Maxppp/Fessenheim/dpa

Nimmt Frankreich Gefahren ernst?

Im Fokus der Kritik stehen vor allem auch die französischen Reaktoren, viele sind derzeit wegen Mängel außer Betrieb. Im Atomkraftwerk Flamanville in Nordfrankreich sorgt die Explosion im nicht-nuklearen Teil derzeit für Schlagzeilen. Radioaktivität wurde bei dem Unfall anscheinend nicht freigesetzt.

Auch die Pannen in den Kernkraftwerken von Cattenom und Fessenheim sorgen beunruhigen viele Bürger. Cattenom liegt in der Nähe von Trier und das AKW Fessenheim 25 Kilometer von Freiburg entfernt. 

Atomkraftgegner, Kommunen an der Grenze und auch das Bundesumweltministerium fordern die schnelle Abschaltung dieser Kraftwerke. Der französische Staatspräsident Francois Hollande versprach nach seinem Amtsantritt die Schließung von Fessenheim für Ende 2016. Dieser Termin wurde allerdings immer wieder verschoben. Der Verwaltungsrat vom französischen Stromkonzern EDF stimmte Ende Januar einer Schließung zu. Der genaue Termin ist jedoch noch nicht bekannt. 

Frankreich steckt auch wegen seiner Atomkraft in einer Krise. Der einst mächtige Atomkonzern AREVA verkauft weltweit keine Atomkraftwerke mehr und konnte nur mit staatlicher Unterstützung vor dem Kollaps gerettet werden. 

Auch der staatliche Stromkonzern EDF ist inzwischen hoch verschuldet und die alten Atomkraftwerke werden zum Balast. Sie sind zunehmend unrentabel und müssen nach der Abschaltung zudem sehr kostenaufwendig zurückgebaut werden. Es gibt Zweifel, dass EDF ausreichend Reserven dafür hat. 

Zudem erschüttern Skandale und Pannen das Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit der einst mächtigen Atomindustrie. Ein 2015 verabschiedetes Energiewende-Gesetzt sieht vor, dass der Anteil von Atomstrom in Frankreich von rund 75 Prozent bis 2025 auf 50 Prozent gesenkt werden soll, vor allem durch den Ausbau erneuerbarer Energien. Wie dieses Ziel gelingen soll und wie schnell die Atomkraftwerke vom Netz gehen ist jedoch unklar. Vor den Präsidentschaftswahlen in Frankreich werden diese Entscheidungen wahrscheinlich nicht mehr getroffen.

Rueter Gero Kommentarbild App
Gero Rueter Redakteur in der Umweltredaktion