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"'Jud Süß' ist immer noch erschreckend"

Jochen Kürten
3. August 2017

NS-Propagandafilme dürfen seit Jahrzehnten nicht öffentlich gezeigt werden. Warum das Verbot auch heute noch richtig ist, begründet die Filmwissenschaftlerin Anne Siegmayer von der Murnau-Stiftung im DW-Interview.

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Deutschland Film Geschichte Filmszene Jud Süss mit Ferdinand Marian
Bild: picture-alliance/akg-images

Deutsche Welle: Die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung verfügt heute über die Rechte an den schlimmsten Propagandafilmen der Nationalsozialisten. Sie dürfen nur unter Vorbehalt gezeigt werden - möglichst eingerahmt von Vorträgen und Diskussionen. Wie sinnvoll ist so eine Praxis heute noch in Zeiten des Internets und einer völlig neuen Art des Medienkonsums?

Anne Siegmayer: Diese Praxis ist nach wie vor sinnvoll. Einfach weil es sich um ein sensibles, kritisches Material handelt. Wir, als die dafür Verantwortlichen, wollen das nicht einfach unkommentiert auf den Markt werfen. Man muss sich natürlich nichts vormachen, die Filme sind online zu einem großen Teil verfügbar. Wer sie sehen will, egal welcher Gesinnung, der kann das tun. Klar sein muss aber, dass es sich dabei um illegale Raubauswertungen von mitunter strafrechtlich relevantem Material handelt.

Uns ist es wichtig, die Deutungshoheit darüber zu behalten und einem Nutzer in Kinovorführungen durch wissenschaftliche Einführung und Diskussionsmöglichkeiten einen Mehrwert zu diesen Filmen zukommen zu lassen und einen Kontext zu liefern - so, wie wir es ja jetzt auch machen.

Wie sieht denn die Praxis aus? Wie oft werden Sie angesprochen wegen möglicher Vorführungen der Vorbehaltsfilme?

Ich kann keine genauen Zahlen nennen, aber schon sehr häufig. Es ist eine unserer wichtigsten Aufgaben, diese Filme den Schulen, Universitäten und Kinos zur Verfügung zu stellen. Da werden wir schon häufig angefragt. Die Vorträge machen wir nicht selbst. Wir arbeiten mit dem "Institut für Kino- und Filmkultur" zusammen und vermitteln sehr häufig die Referenten.

Deutsches Filmhaus und Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung in Wiesbaden, Büro- und Kinogebäude
Die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung in Wiesbaden wacht über die sogenannten VorbehaltsfilmeBild: picture alliance/dpa/J.W. Alker

Kommt es denn bei solchen Veranstaltungen und Vorführungen zu kontroversen Diskussionen?

Mitunter, das kommt natürlich aufs Publikum an. Ich habe das selbst bei uns im hauseigenen Kino schon miterlebt, das nach dem Film ganz verschiedene Meinungsbilder zur Sprache kommen. Wir hatten auch schon mal einen älteren Herrn nach einem Film dabei, der der Ansicht war, dass es doch überhaupt keine propagandistischen Kriegsfilme in der NS-Zeit gab und wir doch bitte mal mehr davon zeigen sollten. Daraufhin ist dann eine Frau erbost aufgesprungen, hat lautstark ihre Gegenmeinung kundgetan und den Saal während der Diskussion verlassen.

Man hört aber auch, dass sich gerade ältere Besucher positiv über das Zurückhalten der Filme äußern, während jüngere Besucher argumentieren, dass sie den ganzen "pädagogischen Kram" vor und nach den Vorstellungen für überflüssig halten.

Ich kann da wenig aus eigener Erfahrung berichten, kann das aber schon nachvollziehen. Ältere Besucher, die die Zeit oder die direkten Auswirkungen noch miterlebt haben, haben ein anderes Verhältnis dazu. Die finden das sehr gut und sehen es positiv, dass die Filme nicht kommentarlos gezeigt werden. In der jüngeren Generation, zu der ich auch gehöre, ist einfach der Umgang mit Medien ein ganz anderer, ein viel selbstständigerer. Heute ist alles schnell verfügbar. Wenn junge Nutzer etwas sehen wollen, wollen sie nicht erst noch irgendwelche zwischengeschalteten Instanzen durchgehen. Man hat ja als junger Mensch heute eine ganz andere Medienkompetenz und zu diesen Filmen eine große Distanz. Trotzdem halte ich die Kontextualisierung durch Einführungen weiterhin für wichtig.

Hitler als Ehrengast bei Filmvorfuehrung 1933
Erkannte früh die Propagandakraft des Kinos: Adolf Hitler als Ehrengast bei einer Filmvorführung im Januar 1933Bild: picture-alliance/akg-images

Wird der Korpus der Vorbehaltsfilme eigentlich immer mal wieder einer Prüfung unterzogen?

Tatsächlich ist es so, dass seit der ursprünglichen Verbotsliste der Alliierten, unser Stiftungskuratorium diese Filme immer wieder überprüft hat, unter verschiedenen Kriterien und natürlich auch vor dem eigenen historischen Hintergrund.

Kommen auch neue Filme hinzu, das heißt, NS-Filme, die bisher nicht auf der Verbotsliste standen?

Nachträglich aufgenommen wurde meines Wissens bisher keiner. Natürlich kann es sein, dass in Einzelfällen eine solche Diskussion auch wieder in Gang kommt. Die Kritik ist grundsätzlich nicht unberechtigt. Bei jedem Film ist der Fall anders, jeder Film muss einzeln geprüft werden. Man kann darüber nicht pauschal urteilen. Es gibt natürlich grobe Kriterien, wenn ein Film volksverhetzend, antisemitisch, rassistisch ist.

Es gibt 44 Vorbehaltsfilme, welche außer "Jud Süß" waren denn noch antisemitisch?

Da muss man ein bisschen ausholen. Es gab während der NS-Diktatur eigentlich sehr wenige Filme, die ganz explizit in der Gesamtaussage antisemitisch waren. Das ist zum einen "Jud Süß", ein anderer, sehr bekannter, ist "Die Rothschilds", ein weiterer "Der ewige Jude", bei dem die Verwertungsrechte aber nicht bei unserer Stiftung liegen. Und dann gab es natürlich auch sehr viele Filme, in denen sehr unterschwellig oder beiläufig eine antisemitische Haltung weitergegeben wurde. Zum Beispiel die Komödie "Robert und Bertram" - da ist es so, dass die negativen Figuren jüdische Personen waren. Oder bei "Venus vor Gericht". Das ist ein Film, der sich mit Kunst auseinandersetzt, wo es auch um den Diskurs über "entartete Kunst" gegenüber klassischer Kunst geht. Auch da sind wieder die Gegenspieler, die "bösen" Figuren, die Kunsthändler, die letzten Endes als korrupt und unfähig entlarvt werden, jüdische Figuren. So funktionierte das dann in den meisten Filmen, wo ein antisemitisches, ein negatives Bild der Juden transportiert wurde.

Der ewige Jude  Propagandafilm, Szene mit Ernst Lubitsch , 1939
Auch der große Regisseur Ernst Lubitsch wurde im Propagandafilm "Der ewige Jude" verunglimpftBild: picture-alliance/akg-images

Wenn es diese "Sperre" durch den Vorbehalt nicht geben würde, würde das auf fruchtbaren Boden im rechtsradikalen Milieu stoßen?

Grundsätzlich würde das bestimmt auf fruchtbaren Boden bei den Leuten stoßen, bei denen eine solche Disposition vorhanden ist. Was ich aber nicht glaube, ist, dass ein solcher Film heute noch jemanden zum Nazi machen würde oder zum Antisemiten. Dafür funktionieren die filmischen Mechanismen [von damals, Anm. d. Red.] heute nicht mehr gut genug. Die meisten Filme wirken auf uns heute auch ein bisschen unfreiwillig komisch oder langweilig. Natürlich: So was wie "Jud Süß" ist immer noch erschreckend. Aber auch davon lässt sich heute keiner mehr neu überzeugen.

Der israelische Historiker Moshe Zimmermann hat einmal gesagt, er sei eigentlich für die Freigabe der Filme, auch von "Jud Süß". Er hat aber auch gesagt, wenn das heute jemand sehen würde, dann liegt der Fehler nicht im Zeigen des Films, sondern in der Erziehung.

Diesem Argument würde ich mich anschließen, dennoch teile ich seine Schlussfolgerung [die Freigabe der Filme, Anmerk. d. Red.] nicht.

Anne Siegmayer arbeitet als Filmwissenschaftlerin bei der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung in Wiesbaden und ist unter anderem für den Bereich "Vorbehaltsfilme" zuständig. 

Das Gespräch führte Jochen Kürten.