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Antisemitische Vorfälle in Deutschland vervierfacht

28. November 2023

Bedrohungen in der Schule, beim Sport und an der Wohnungstür: Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel zählen die Meldestellen für Antisemitismus in Deutschland täglich 29 judenfeindliche Vorfälle.

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Ein Loch ist in der zersplitterten Glasscheibe eines Schaukastens vor dem Rathaus Tiergarten in Berlin zu sehen. Der Schaukasten zeigt eine Ausstellung zur jüdischen Geschichte des Krankenhauses Moabit.
Zersplittert: Anschlag auf einen Schaukasten zur Geschichte des jüdischen Krankenhauses in Berlin-MoabitBild: Annette Riedl/dpa/picture alliance

Fälle von offenem Judenhass haben in Deutschland seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel stark zugenommen. Das berichtet der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS). 

Zwischen dem Angriff der militant-islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober und dem 9. November registrierte RIAS 994 antisemitische, also judenfeindliche Vorfälle. Das sind im Schnitt 29 Vorfälle täglich, und damit viermal so viele wie im Durchschnitt des Vorjahres. 

"Wir beobachten den Anstieg der antisemitischen Vorfälle seit dem 7. Oktober, und nicht erst mit der israelischen Reaktion darauf", sagt Daniel Poensgen, wissenschaftlicher Referent beim Bundesverband RIAS, der DW. Das Geschehen vor Ort, also etwa die israelische Bodenoffensive im Gaza-Streifen, sei also nicht entscheidend.

Wichtig sei eher: "Wie wird das Geschehen aufgegriffen, wie wird darüber gesprochen und inwiefern nutzen politische Akteure hier in Deutschland dieses Geschehen als Anlässe, um zu mobilisieren?" So würden Menschen motiviert, bereits vorhandene antisemitische Einstellungen auch in der Öffentlichkeit zu äußern oder antisemitisch zu handeln.

Anfeindungen im Treppenhaus

In 59 Fällen erlebten Menschen laut RIAS den Judenhass rund ums eigene Zuhause. "Das greift in ihre unmittelbare Privatsphäre ein", sagt Poensgen.

"Das sind Orte, die sie nicht vermeiden können, wie etwa bestimmte Stadtviertel oder Fußballspiele, wo Jüdinnen und Juden eben sagen, okay, die Stimmung ist gerade aggressiv, dann gehe ich da nicht hin. Das geht im eigenen Wohnumfeld nicht. Das Treppenhaus vor der Mietwohnung, da muss man eben täglich durch und deswegen sind diese Vorfälle besonders bedrohlich."

Mann mit Brille und kariertem Hemd schaut in die Kamera
Daniel Poensgen ist Referent beim Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen AntisemitismusBild: Privat

Dies hat der Duisburger Cyrus Overbeck bereits am eigenen Leib erlebt. Overbeck setzt sich seit Jahren gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus ein - in der Vergangenheit hat er mehrfach Anzeige bei der Polizei erstattet wegen Sachbeschädigung und tätlichen Angriffen von Neonazis.

Verzicht auf Kippa und Davidstern-Anhänger 

Im Gespräch mit der DW berichtet er nun von israelbezogenem Antisemitismus, den er seit dem 7. Oktober erlebt. So waren vor dem Atelier und Wohnhaus des Künstlers mit jüdischen Wurzeln unlängst rund 30 Flugblätter mit israelischen Fahnen ausgelegt, darauf die Worte: "Tretet drauf auf die Flagge, spuckt darauf, verbrennt die Flagge: Free Palestine."

Er sei hinausgegangen, so Overbeck, "und es stand ein offensichtlich hochaggressiver Mann mit Palästinensertuch dort, der mich beschimpfte." Overbeck erstattete Anzeige. "Wir verlassen das Haus nur noch zum Einkaufen", sagt er.

Künstler Cyrus Overbeck, in schwarzem Hemd, faltet die Hände
Antisemitismus müsse bereits in den Schulen bekämpft werden, meint der Künstler Cyrus OverbeckBild: Christoph Wojtyczka

Laut RIAS verzichteten viele Jüdinnen und Juden mittlerweile auf das Tragen von Ketten mit Davidstern-Anhängern oder zögen eine Mütze über die Kippa, die sie als religiöse Juden erkennbar macht. Zudem habe man Berichte von Eltern erhalten, die ihre Kinder aus Angst vor antisemitischen Angriffen zeitweise nicht mehr in Schulen oder in Kitas geschickt hätten.

Brandanschlag auf Berliner Gemeindezentrum

RIAS hat insgesamt drei Fälle "extremer Gewalt" verzeichnet. Darunter der Brandanschlag auf ein Berliner Gemeindezentrum. Zwei vermummte Unbekannte hatten Brandsätze in Richtung des Gemeindezentrums geworfen, das neben einer Synagoge auch eine Kindertagesstätte und Schulräume beherbergt.

RIAS vermeldet außerdem 29 Angriffe, 32 Bedrohungen und 72 gezielte Sachbeschädigungen. In 854 Fällen spricht RIAS von "verletzendem Verhalten".

Versuchte Brandstiftung: Anschlag auf Synagoge in Berlin

Auch die Sicherheitsbehörden registrieren seit dem 7. Oktober einen starken Anstieg antisemitischer Vorfälle. So wurden dem Bundeskriminalamt (BKA) seitdem 680 antisemitische Straftaten gemeldet.

Im Unterschied zu den Behörden dokumentiert RIAS auch Vorfälle, die keine Straftaten sind, sowie mögliche Straftaten, die nicht zur Anzeige gebracht werden. Jeder, der Judenhass erlebt, kann sich an die Meldestellen wenden. RIAS versucht, die Meldungen zu verifizieren und vermittelt Unterstützung für Betroffene.

RIAS listet auch auf, welche politische Motivation hinter den Vorfällen steckt. Seit dem 7. Oktober ist dabei insbesondere der Anteil der Vorfälle aus dem islamistischen und linken Milieu angestiegen.

"Wir sehen aber bei Versammlungen regelmäßig, dass Antisemitismus als Brückenideologie fungiert und Menschen ganz unterschiedlicher politischer Spektren zusammenbringt", erläutert Poensgen.

"Da kann es schon mal sein, dass Leute, die sich eigentlich links verorten, gemeinsam mit Islamisten demonstrieren und vielleicht auch gemeinsam mit Rechtsextremen wie Anhängern der Grauen Wölfe."  

Schuster: Leider Platz für Antisemitismus in Deutschland

Der Zentralrat der Juden in Deutschland nannte den Bericht "erschreckend". Die Zahlen deckten sich mit den Erfahrungen der jüdischen Gemeinden.

In einer Pressemitteilung ging der Zentralrat zudem auf den Fall Gil Ofarim ein. Ofarim hatte zwei Jahre lang Mitarbeiter eines Leipziger Hotels des Antisemitismus beschuldigt.  Nun hat er gestanden, dass die Vorwürfe erfunden waren. Es sei richtig, "bei einem Antisemitismusvorwurf auf der Seite des Betroffenen zu stehen, ihm beizustehen und die Antisemitismuserfahrung zunächst nicht in Frage zu stellen", so der Zentralrat der Juden. Umgekehrt dürfe solch ein Vorwurf niemals grundlos erhoben werden.