Brasiliens Gefängnisse ohne Gewalt
24. April 2021Marlon Samuel da Silva hat Sehnsucht. Sehnsucht nach seiner Zeit hinter Gittern. Sehnsucht nach einem geregelten Tagesablauf. Sehnsucht nach Gemeinschaft und Gesang.
Elf Jahre und acht Monate verbrachte der mittlerweile 40-jährige Brasilianer wegen Drogenhandels hinter Gittern. Die meiste Zeit davon saß er in einem besonderen Gefängnis ab, wo es keine Waffen und keine Wärter gibt.
APAC werden diese besonderen Haftanstalten in Brasilien genannt, die von der brasilianischen "Vereinigung für Schutz und Unterstützung Verurteilter" (Associação de Proteção e Assistência aos Condenados) verwaltet werden. In den 60 Einrichtungen sind rund 4.000 Häftlinge untergebracht.
In den APAC-Gefängnissen ist alles anders: Die Insassen tragen keine Uniform, sie werden mit ihrem Namen angeredet, und sie gelten nicht als Straftäter, sondern als "Rückkehrende". Sie verwalten das Gefängnis selbst, kochen, waschen, putzen. Ihr Tagesablauf ist streng geregelt.
"Wunderbare Momente"
"Es ist komisch, das zu sagen, aber mir fehlt diese Routine", sagt Marlon Samuel da Silva im DW-Gespräch. "Ich habe viele wunderbare Momente erlebt und bin viel herum gekommen", erzählt er. Weil er Gitarre spielt, trat er regelmäßig in anderen Apacs auf.
Nicht nur die Routine fehlt ihm, auch die Anerkennung. "Ich habe mich wertgeschätzt gefühlt," sagt er. Als ehemaliger Drogenabhängiger sei das für ihn äußerst wichtig. "Abhängige können nicht mit negativen Emotionen umgehen", weiß er, "positive Impulse sind extrem wichtig für ihre Genesung."
Anerkennung und Wertschätzung im Gefängnis? Im Alltag der regulären brasilianischen Haftanstalten sind dies Fremdwörter. Stattdessen prägen Folter, Misshandlungen, Meutereien und organisierte Kriminalität das Leben hinter Gittern.
Genauso wie die gravierende Überbelegung. In Brasilien, das mit rund 760.000 Gefangenen nach China und den USA die drittgrößte Häftlingsbevölkerung weltweit aufweist, beträgt die Auslastungsrate laut "World Prison Brief" 151 Prozent. In Kolumbien sind es 121 Prozent.
"Nicht einmal ein Hund hält es dort aus"
Marlon da Silva kann die Qualen im "normalen System" nicht vergessen. "Ich habe ein Jahr dort verbracht und wahnsinnig gelitten", erzählt er. "In einer Zelle für neun Personen hausen oft mehr als 30 Menschen, nicht einmal ein Hund würde es dort aushalten."
Ganz anders sieht es bei den APACs aus. Es gibt keine Überbelegung und die Rückfallquote, die im "normalen System" bei 85 Prozent liegt, beträgt dort lediglich 15 Prozent. Die Wartelisten von Häftlingen, die in einen APAC verlegt werden sollen, sind dafür umso länger.
Auch die Kosten sind geringer: Statt umgerechnet 644 Euro belaufen sich die monatlichen Kosten für einen Insassen im APAC in Brasilien auf rund 250 Euro. Hauptgrund ist die Tatsache, dass die Gehälter für die bewaffneten Sicherheitskräfte entfallen.
Waffen sind tabu
"In keinem der 60 APACs gibt es bewaffnete Gefängniswärter oder Polizisten", erklärt Denio Marx Menezes von der brasilianischen Vereinigung zur Unterstützung verurteilter Straftäter, genannt Fbac (Fraternidade Brasileira de Assistência aos Condenados). Die Vereinigung verwaltet die alternativen Gefängnisse.
Die Gründung der APACs geht auf den katholischen Laien Mario Ottoboni zurück, der in den Siebziger Jahren durch die Erfahrungen seiner Gefängnisbesuche zu der Überzeugung gelangte, dass eine Resozialisierung von Häftlingen im traditionellen brasilianischen Strafvollzug nicht möglich sei.
Ottobonis Konzept beruht auf christlicher Nächstenliebe und menschlicher Wertschätzung. Der erste APAC mit dem bis heute gültigen Motto "Hier tritt der Mensch ein, die Straftat bleibt draußen", wurde 1972 in der Stadt São José dos Campos im brasilianischen Bundesstaat São Paulo gegründet.
Politischer Rückenwind
Erst 2020 wurden die häufig ehrenamtlich betriebenen Anstalten von der brasilianischen Regierung anerkannt und damit auch finanziell unterstützt. Seitdem schießen die religiös geprägten Gefängnisse in Brasilien wie Pilze aus dem Boden.
"Wir arbeiten zusammen mit dem brasilianischen Justizministerium an einem Plan, der eine Piloteinheit in jedem brasilianischen Bundesstaat vorsieht", kündigt Fbac-Sprecher Denio Marx Menezes an. In sechs von insgesamt 27 brasilianischen Bundesstaaten gebe es bereits APACs. In weiteren 14 Bundesländern stehe die Umsetzung bevor.
Modell für Menschenrechte
Mittlerweile gehört sogar die EU zu den Förderern des Modells. Laut einem 2016 von der EU-Kommission bewilligtem Antrag sollen Apacs in ganz Lateinamerika als Instrument für die zivilgesellschaftliche Stärkung von Menschenrechten der Bevölkerung hinter Gittern genutzt werden.
"Mit der Initiative sollen Folter und alle Formen der Misshandlung bekämpft und die Apacs als ein Modell gefördert werden, das weltweit als Alternative für den chaotischen traditionellen Strafvollzug dienen könnte", heißt es in dem Projektantrag. Wichtig seien dabei der Beitrag der Zivilgesellschaft und das ehrenamtliche Engagement.
Hauptprojektpartner der EU ist deshalb die brasilianische Freiwilligenvereinigung Avsi. Die Umsetzung des Projektes liegt bei der Fbac sowie den Justizministerien von Brasilien, Chile, Costa Rica und Kolumbien.
Bei der Zusammenarbeit mit der EU wird immer wieder der Faktor Religion hinterfragt. "Die Apacs sind keine religiöse Institution, aber sie verleugnen ihre religiösen Wurzeln nicht", erläutert Fbac-Sprecher Menezes.
In der Praxis bedeutet dies, dass es nicht nur den gesetzlich vorgesehene religiösen Beistand für Insassen gibt, sondern auch zahlreiche Angebote wie Bibelauslegung und Gebetskreise. Dazu gehören auch Kurse der christlichen Organisation für Gefangene, "Prison Fellowship", mit der die Apacs zusammenarbeiten.
Gott hinter Gittern
Auch Marlon Samuel da Silva hat Gott im Gefängnis entdeckt. "Der Umweg über das Verbrechen hat mich zu Gott geführt", sagt er "Im Apac habe ich gesehen, wie ein wegen Mordes Verurteilter einen kranken Insassen gepflegt hat, das ist Gott."
Die Sehnsucht nach diesen Erlebnissen plagt ihn seit seiner Entlassung 2016. Denn "draußen" ist der Umgang mit Ex-Häftlingen und ihren Familienangehörigen alles andere als verständnisvoll. So wollten sich einige Kundinnen im "Salon der Mutter des Drogenhändlers" nicht mehr frisieren lassen, so Marlon da Silva.
"Die Gesellschaft denkt immer, Gefangene sollen leiden, das haben sie verdient", sagt er. "Aber sie vergessen, dass jeder resozialisierte Gefangene einen Revolver weniger auf der Straße bedeutet."