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Politik

App gibt Sinti- und Roma-Community eine Stimme

Nadine Mena Michollek
23. Oktober 2022

Vor zehn Jahren wurde in Berlin das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas eingeweiht, doch vor Ort fehlen Perspektiven der Sinti- und Roma-Community selbst. Das soll sich nun ändern.

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Deutschland Berlin | 10 Jahre Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas
Am 24.10.2012 wurde in Berlin das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas eingeweihtBild: Nadine Michollek/DW

Der Tiergarten in Berlin, in der Nähe des Brandenburger Tors. Viele Touristengruppen, Straßenlärm und Stimmengewirr. Doch geht man durch das braune Stahltor, wird es plötzlich ruhig. Eine Lichtung, umringt von Bäumen, der Reichstag im Hintergrund. Es ist still, nur das Rauschen der Blätter und ein trauriger Geigenton in Moll. Wir stehen am Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas. Der Ort scheint die Besucher zum Innehalten zu zwingen. Sie bleiben stehen, schreiten langsam am kleinen See entlang, auf grauen Steinplatten, die an Scherben erinnern.

Deutschland Berlin | 10 Jahre Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas
Kritiker bemängeln, dass die Chronologie des Völkermords die Täter in den Vordergrund rücktBild: Nadine Michollek/DW

Isidora Randjelovic bedeutet dieser Ort viel. Sie ist selbst Romni. Ihre Großeltern waren NS-Überlebende. Isidora zeigt mir die Ortsnamen, die auf den grauen Steinplatten stehen: Stutthof, Westerbork, Neuengamme. In der Mitte des Sees ist ein dreieckiger Sockel mit einer Blume. Was die Ortsnamen bedeuten, der dreieckige Sockel, der Geigenton im Hintergrund, danach sucht man hier vergeblich, erklärt mir Isidora. Sie möchte das ändern und hat deswegen mit dem Team der feministischen Selbstorganisation "RomaniPhen" eine App zum Denkmal entwickelt: "Keeping the Memory".

Ein interaktives Denkmal

Isidora ist Leiterin der Selbstorganisation und forscht zu Rassismus gegen Sinti und Roma. Heute probiert sie auf ihrem Mobiltelefon den Prototyp der App vor Ort aus. Auf dem Display erscheint ein interaktives Denkmal, auf dem zu den verschiedenen Inschriften und architektonischen Elementen die zugehörigen Informationen und Erzählungen zu finden sind. So erklärt die App, dass der dreieckige Sockel mitten im kleinen See auf die winkelförmigen Häftlingskennzeichnungen in den Lagern verweist und dass der Geigenton vom Sinti-Musiker und Politiker Romeo Franz komponiert wurde. Und auch, dass auf den Steinen die Namen der Vernichtungs- und Konzentrationslager oder jener Orte stehen, an denen Sinti und Roma erschossen wurden. 

Deutschland Berlin | 10 Jahre Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas
Das interaktive Denkmal auf der App erklärt, was sich hinter den Ortsnamen auf den Steinen verbirgtBild: Nadine Michollek/DW

Auf der Wasseroberfläche spiegeln sich die gelben Blätter der Bäume, der blaue Himmel. Es ist ein sonniger Herbsttag. Wir gehen um den See herum und halten an einer Steinplatte, auf der Auschwitz steht. Auf dem interaktiven Denkmal der App finden wir den gleichen Stein. Klickt man auf diesen, erscheinen Informationen zum Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Isidora war es wichtig, die Erzählungen der Überlebenden und ihrer Nachkommen in den Vordergrund zu rücken. Auf dem Display des Mobiltelefons erscheint die NS-Überlebende Ceija Stojka. Die österreichische Künstlerin, die 2013 verstarb, erzählt von ihrer Ankunft in Auschwitz-Birkenau. Die Zeitzeugin erinnert sich: Dunkelheit, Stacheldraht, Durst, Gebrüll, jaulende Hunde und die SS. 

Wir gehen weiter durch das Denkmal zu einer langen Tafel mit Informationen: Die Chronologie des Völkermords an den Sinti und Roma. Isidora kritisiert, dass die Chronologie die Täter in den Fokus rückt, vor allem auf Gesetzgebungen eingeht, Zahlen liefert. Der Widerstand der Community, feministische Perspektiven, Alltagserzählungen von der Sinti- und Roma-Community selbst fehlen. In ihrer App greift sie diese Themen auf und erzählt die Geschichte durch Interviews, Lieder der Verfolgten, Familienfotos, Kunst oder auch Comics. "Wir brauchen hier eine internationale Romani-Präsenz. Dieses Denkmal ist nicht irgendeins, sondern soll das zentrale Denkmal für die ermordeten Kinder, Frauen und Männer aus der Sinti- und Roma-Community in Europa sein", erklärt Isidora.

Deutschland Berlin | 10 Jahre Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas
Isidora Randjelovic sagt, die Chronologie des Völkermords reiche nicht, da die Perspektiven der Sinti- und Roma-Community fehlten Bild: Nadine Michollek/DW

Gedenken und Mahnen

Der Aktivistin geht es aber auch darum, die Verbindung zur Gegenwart herzustellen: "Gedenken reicht nicht, es geht auch um Mahnen. Man muss verstehen, wie die Folgen der NS-Zeit bis heute nachwirken". Isidora erinnert sich an die Roma aus den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens, die am Denkmal für ihr Asylrecht demonstrierten. In ihren Herkunftsländern seien sie einer starken Diskriminierung ausgesetzt. Die Berliner Polizei aber hätte das Gelände geräumt. "Das Asylrecht ist entstanden als Reaktion auf die NS-Verfolgung. Die Nachkommen der NS-Überlebenden, die bis heute unter Rassismus leiden, konnten dieses Asylrecht nicht nutzen, weil es eine klare Trennung gibt zwischen Gedenkpolitik und Bleiberecht. Aber für Menschen aus der Roma-Community gehört beides zusammen." Die App stellt daher auch die Frage: Was hat das alles heute mit mir zu tun? Denn die NS-Verfolgung betreffe auf ganz unterschiedliche Weise alle Menschen, so Isidora.

Deutschland Berlin | 10 Jahre Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas
Mit der App können Stimmen der Überlebenden und ihrer Nachfahren gehört werdenBild: Nadine Michollek/DW

Anfang 2023 wird es einen QR-Code zur App am Denkmal geben. Die App kann dann kostenlos von allen Besuchenden genutzt werden. Sie wird in Deutsch und Romanes zur Verfügung stehen. Eine englische Version ist in Planung. Das Angebot richtet sich vor allem an junge Menschen und kann auch im Schulunterricht Anwendung finden. 

Für die Zukunft wünscht sich Isidora ein richtiges Museum zur Geschichte und Gegenwart der Sinti- und Roma-Community oder eine Erinnerungsstätte mit umfassenden Informationen und Perspektiven. Die App ist für Isidora ein erster Schritt dahin: "Der Gedanke, dass die Denkmalbesucherinnen und -besucher bald über die App die Geschichte aus Romani-Erzählungen hören und lesen können, macht mich glücklich."