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Arabiens schwächelnde Staaten

Kersten Knipp7. Oktober 2012

Die Revolutionen im Nahen Osten haben die Demokratie in der Region gestärkt. Die Regimewechsel haben aber auch das Gewaltmonopol des Staates erschüttert. Es droht ein Machtvakuum.

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Ein irakischer Polizist begutachtet die durch eine Autobom,be hervorgerufenen Schäden auf einem Öffentlichen Platz. Kirkuk, Irak, 19.9. 2012. (Foto: REUTERS)
Bild: Reuters

2003 schlug dem Diktator die Stunde. Im März 2003 waren die Amerikaner in den Irak einmarschiert. Keine drei Wochen später war Saddam Hussein gestürzt. Ein demokratischer Staat sollte entstehen, wünschte die Bush-Regierung im fernen Washington und ließ darum im Irak tabula rasa machen: Zahllose Beamte, Angestellte, Fachleute und vor allem Sicherheitsexperten wurden entlassen. Die Macht der seit 40 Jahren regierenden Baath-Partei sollte endgültig gebrochen werden. Das gelang auch - allerdings um den Preis, dass der Staat zusammenbrach. Die Absetzung der Funktionäre hinterließ ein Sicherheitsvakuum, von dem sich das Land bis heute nicht erholt hat. Der Terrorismus setzt ihm immer noch zu. Zudem leidet der Irak unter konfessionellen Spannungen, die ihn auseinanderzureißen drohen.

Starke Männer, schwache Staaten

Der Irak ist im Nahen Osten das eindrücklichste Beispiel für einen wenn nicht scheiternden, so doch in seiner Funktionsfähigkeit eingeschränkten und in seiner Existenz gefährdeten Staat. Zumindest aus amerikanischer Sicht verkörperte Saddam den irakischen Staat. Und so traf aus ihrer Sicht auf diesen bis zum Jahr 2003 ein Kriterium zu, das der Politikwissenschaftler Daniel Lambach von der Universität Duisburg-Essen als typisches Kennzeichen scheiternder Staaten definiert: "Besonders gefährdet sind extrem personalistische Regime - also solche, in denen der Staat stark auf eine bestimmte Person zugeschnitten ist", so der Wissenschaftler.

Ein Grafitti im Jemen fordert die Bürger zur Entwaffnung auf. Sanaa, September 2012. (Foto: DW)
Zivilisten bitte keine Waffen tragen. Grafitti im JemenBild: DW

Der irakische Diktator wurde zwar inzwischen von den Amerikanern gestürzt. Aber es ist kein Zufall, dass die Revolutionen in der arabischen Welt durch Länder fegten, deren jeweiliges Machtgefüge ebenfalls auf eine zentrale Person zulief: Muammar al-Gadhafi in Libyen, Zine el-Abidine Ben Ali in Tunesien, Ali Abdullah Salih im Jemen. Syriens Diktator Baschar al-Assad führt derzeit mit allen Mitteln den Kampf um seinen Machterhalt. Und im Sudan sieht sich Präsident Ahmad al-Baschir seit geraumer Zeit nicht abreißenden Protesten gegenüber.

Machtkämpfe entlang konfessioneller Linien

Die meisten dieser Länder haben zudem in unterschiedlichem Maß und unterschiedlicher Qualität mit einem Problem zu tun, das Lambach als zweites wesentliches Problem gefährdeter Staaten nennt: die Gefahr einer künstlich herbeigeführten Konfessionalisierung oder Ideologisierung bestehender Konflikte. Sie gründet auf dem Umstand, dass politische Eliten um Macht ringen und mit Hilfe von Religion oder Ideologien eine möglichst hohe Zahl von Anhängern zu gewinnen oder zu mobilisieren suchen. In extremer Form zeigte sich dieses Phänomen im libanesischen Bürgerkrieg von 1975 bis 1990, als Sunniten, Schiiten und Christen in wechselnden Koalitionen einander bekämpften. Diese Konfliktlinien durchziehen auch die heutigen gefährdeten Staaten.

demonstrierende Salafisten in Tunesien, 8.6. 2012 (Foto: Deutsche Welle)
Religion als Medium der Politik: Salafisten in TunesienBild: DW

Am stärksten sind sie derzeit in Syrien zu beobachten. Wie einst im Libanon sind auch an den Kämpfen dort längst die Nachbarstaaten beteiligt, und auch dort stehen sie sich entlang einer konfessionellen Front gegenüber: Die sunnitisch geführten Staaten der Golfregion sowie die Türkei unterstützen die Aufständischen, die schiitisch gelenkten Staaten Iran, Irak und die halbstaatliche Hisbollah stehen an der Seite des Assad-Regimes. Auch die internationalen Akteure, vor allem Russland und die USA, nehmen in ihrer Politik Rücksicht auf die konfessionellen Bruchlinien der Region. Diese sorgen längst auch für Unruhe in den Nachbarstaaten. Vor allem im Libanon und der Türkei ist es zu einzelnen Kämpfen zwischen Anhängern und Gegnern Assads gekommen.

Begrenzter Einfluss der Supermächte

Im Syrien-Konflikt lässt sich zudem ein Phänomen beobachten, das sich bereits im Irak zeigte: der begrenzte Einfluss der internationalen Gemeinschaft. Allerdings, erklärt Daniel Lambach, wurde der Einfluss der beiden Akteure seit jeher überschätzt: "Die großen Staaten haben ihren Einfluss nicht verloren - und zwar darum, weil sie diesen Einfluss nie hatten. In Afghanistan scheiterten die Briten im 19. und die Sowjets im 20. Jahrhundert. Diese Machtlosigkeit ist kein Spezifikum unserer Zeit. Aber sie zeigt die Grenzen der Geostrategie: Man kann keine Staaten gegen den Willen von deren Bevölkerung bauen."

Darum, erklärt der Politikwissenschaftler Martin Beck vom "Centre for Contemporary Middle East Studies" der "University of Southern Denmark", müsse die Staatengemeinschaft ihre Ansätze überdenken. Heute sei sie gezwungen, mit staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren gleichermaßen zusammenzuarbeiten. Dieses zweifache Vorgehen erfordere eine Schärfung politischer Konzepte.

Ein Banner mit den Worten "Veränderung bedeutet Sicherheit", aufgenommen während einer Demonstration in Khartoum, 29.6. 2012. Khartoum ,June ,29 , 2012 (Foto: "Al Jarida")
"Veränderung bedeutet Sicherheit": Zivilgesellschaftliche Regungen in Khartoum/SudanBild: Mohammed Fiat

Denn unter den zivilgesellschaftlichen Organisationen vor Ort könne man sich zwar die aussuchen, mit denen man gemeinsame Werte habe. "Aber das sind oft nicht diejenigen, die die politische Macht haben", so Beck. "Das bedeutet, dass man auch mit Gruppierungen zusammenarbeiten muss, die unter Umständen ein teilweise anderes Weltbild haben. Tut man das aber nicht, ist man auf ein relatives schmales Segment dieser Gesellschaften angewiesen."

Dies nötige die internationale Staatengemeinschaft freilich, gelegentlich über ihren Schatten zu springen: "Man darf sich nicht scheuen, auch mit moderaten islamistischen Gruppen zusammenarbeiten, um im Rahmen des Möglichen gewisse rechtsstaatliche Ziele zu realisieren", fordert Beck. Wichtig sei hierbei, dass die westlichen Staaten auch mit international aufgestellten zivilgesellschaftlichen Akteuren ihrer eigenen Länder zusammenarbeiten.

Regionale Infektionsgefahr

Von den wenn nicht gescheiterten, so doch geschwächten Staaten in Nahost geht erhebliche Gefahr aus: Das Macht-Vakuum lockt einerseits islamistische Terrorgruppen. Andererseits ermutigt es - wie derzeit vor allem in Libyen - auf Clan- oder Stammesbasis strukturierte Gruppen, dem Staat einen Teil seiner Macht abspenstig zu machen. Insbesondere terroristische Gruppen nutzen staatlich nicht hinreichend kontrollierte Territorien als Rückzugs- und Mobilisierungsräume, aus denen heraus sie nicht nur auf das unfreiwillige Gastland, sondern auch dessen direkte und indirekte Nachbarn zielen. Schwache Staaten können im schlimmsten Fall eine ganze Region infizieren.