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Archäologe der Schulden

Ruth Krause22. Juni 2012

Ein Hype um einen Anarchisten: Kaum ein Buch wurde in den letzten Wochen so heftig diskutiert und hochgelobt wie David Graebers Systemkritik "Schulden- die letzten 5000 Jahre". Was steckt dahinter?

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David Graeber Autor Schriftsteller
Bild: Jennifer S. Altman

Er hält nicht lange still. Mal ist Graeber in London, wo er am Goldsmith College Anthropologie unterrichtet, mal in Frankfurt bei Blockupy, dann in Köln und Berlin für Buchvorstellungen, plötzlich in New York. Kein Wunder, dass der Mann viel zu tun hat: Er hat innerhalb von 40 Tagen drei Bücher in Deutschland veröffentlicht. Das bekannteste davon haben die Polit-Talkerin Maybritt Illner und Kulturmoderator Dieter Moor als das "vielleicht wichtigste Buch des Jahres" beschrieben: "Schulden – die ersten 5000 Jahre" dreht sich um die Schuldengeschichte der Menschheit. Mit den Veröffentlichungen hat der Mann, der den Slogan "We are the 99%" der systemkritischen Occupy-Bewegung mitprägte, mehr Aufsehen erregt, als seine Mitstreiter jemals zuvor. Ein Aktivist, Anarchist und Anthropologe in allen wichtigen Feuilletons: Was hat Graeber nur von sich gegeben?

Das Fundament unseres Lebens aus den Angeln gehoben

Er verfasst eine 400-Seiten starke Chronik der Geschichte der Schulden und damit quasi der Menschheitsgeschichte. Am Beginn stellt er einen so schlichten wie provokanten Satz in den Raum: "Schulden muss man nicht zurückzahlen." Dann schlägt er einen Bogen über die ökonomischen Systeme verschiedener indigenen Gruppen, die Erfindung des Münzgeldes und landet schließlich in der Gegenwart. Seine These: Die Behauptung, dass erst Tauschhandel entstand, dann zur Vereinfachung das Geld erfunden wurde und schließlich der Kredit hinzukam, ist Schwachsinn. Stadtessen habe es Kreditsysteme schon gegeben lange bevor Geld erfunden wurde. Menschen, die in einer Gemeinschaft zusammenleben, leihen sich ständig etwas, helfen einander aus und sind anderen Gefallen schuldig – diese Schulden haben aber nichts mit Geld zu tun, so der Anthropologe.

Buchcover von David Graebers Buch "Schulden"
Ein ebenso radikaler wie befreiender Blick auf die Wurzeln unserer SchuldenkriseBild: klett cotta

Graeber zeigt, dass Schulden eine moralische Dimension haben. Er findet es bemerkenswert, dass der moralische Imperativ, Schulden zurückzuzahlen, wichtiger genommen wird als alle anderen ethischen Verpflichtungen. Wie könne es sonst passieren, dass arme Länder, um Schulden zurückzahlen zu können, Subventionierung von Grundnahrungsmittel aufgeben müssten und so die eigenen Bürger in den Hunger trieben? Schulden, so Graeber, seien ein moralisches Prinzip, das lediglich die Macht der Herrschenden - in diesem Fall der Gläubiger - stütze und damit zur Unterdrückung der Massen beitrage. Dies könne aber nicht lange gut gehen. Denn: Seien zu viele Menschen verschuldet, führe dies zu Volksaufständen und Revolutionen. Die Lösung? Schuldenerlass, sagt Graeber.

Chronik des Erfolges

Diese Forderung ist ganz in Graebers Stil, der bereits zuvor radikale Positionen vertreten hat. Er ordnet sich keiner Partei zu, nennt sich anarchistisch, ist Mitglied der Gewerkschaft "Industrial Workers of the World" und hat über Macht, die Bedeutung von Geschichte und Sklaven in Madagaskar geforscht. Bis 2007 war Graeber an der Universität Yale tätig, sein Vertrag wurde in einer umstrittenen Entscheidung nicht verlängert. Kritiker vermuten einen politischen Grund.

Frank Schirrmacher, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher bezeichnete Graebers Buch als "Offenbarung"Bild: dpa

Der 51-jährige Amerikaner schaffte es mit seinen provokanten Thesen in der Bestsellerliste des Nachrichtenmagazins "Spiegel" im Mai auf Platz 4. Begonnen hat die Erfolgsgeschichte des Buches letzten Herbst, als es nur die englische Fassung gab. FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher schrieb, das Buch sei "eine Offenbarung, weil er es schafft, dass man endlich nicht mehr gezwungen ist, im System der scheinbar ökonomischen Rationalität auf das System selber zu reagieren". Mit dieser Aussage hat er Graebers Thesen salonfähig gemacht.

Richtig los ging der Medienhype, als die deutsche Fassung des Schulden-Buches Mitte Mai herauskam, zeitgleich mit Graebers "Inside Occupy", einer Art Monographie der Occupy-Bewegung. Hierin offenbart Graeber viel von seinem politischen Hintergrund: Die Occupy-Proteste hat er von Anfang an verfolgt und mitorganisiert, zeitgleich analysiert, propagiert und gestaltet.

Alle großen deutschen Zeitungen berichteten über Gaeber: Die Süddeutsche Zeitung, TAZ, Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Welt, der Spiegel, Stern sind nur einige davon. Meist war die Kritik wohlwollend. Die Thesen seien brillant, aufschlussreich, anregend, so das Fazit. Denn Graeber übersetzt zwischen den Welten, zwischen Systemkritikern und Systemtreuen, Akademikern und Medien. Er schafft es, komplexe Theorien in mundgerechte und verständliche Häppchen zu portionieren. Er bricht Analysen herunter, führt Gedankenstränge zusammen und ist dabei auch noch unterhaltend.

Die Spielregeln des Systems kennen und gegen es verwenden

Doch es ist nicht nur der Inhalt der Bücher. Es liegt auch an der Person Graeber. Von ihm kommt die Idee der "99 Prozent" in dem Slogan "Wir sind die 99 Prozent". Und obwohl er sich zu den 99 Prozent zählt, kennt er die Sprache des einen Prozents. Und er kennt die ungeschriebenen Gesetze, um öffentlich gehört zu werden. Bei Maybritt Illner steht er brav in schwarzem Jackett da, auch im gefühlten siebenundsechzigsten Interview mit der deutschen Presse ist er höflich, prägnant und wirkt nicht gelangweilt. So radikal und so revolutionär sein Denken auch ist, so systemtreu gibt er sich bei seinen Auftritten. Er weiß, wie viel Angepasstheit nötig ist, um zu unangepasstem Denken anzuregen. Er ist kein Spinner, sondern passt sich sogar den Gepflogenheiten des Vorabendprogramms an. Und vor allem: Er eignet sich als Symbolfigur für den Rest der sogenannten 99 Prozent. Von den Medien erhielt er schon alle möglichen Attribute: "Kopf" und "Vordenker" der Occupy-Bewegung, aber auch der "intellektuelle Superstar".

Buchcover von "Inside Occupy" von David Graeber
Graeber wird von den Medien als "Kopf" oder "Vordenker" der Occupy-Bewegung bezeichnet.Bild: campus

Liest man sein Buch "Inside Occupy", bemerkt man spätestens nach den ersten 30 Seiten: Das Letzte, das Occupy für die eigenen Bewegung möchte, ist ein Kopf oder Führer. "Direct Action", Basisdemokratie und eine flache Hierarchie, das will Occupy. Doch Graeber ist für Medien einfach schön greifbar. Genauso wie er die Geschichte der Schulden erklären kann, kann er formulieren, was hinter Occupy steht. Sprüche wie "Wir erklären, dass dieses ganze System nicht funktioniert" nehmen wir eher ernst, wenn er aus dem Mund eines ehemaligen Yale-Professors als wenn er aus dem Munde eines Zwanzigjährigen mit Kapuzenpulli und Dreadlocks kommt.  

Inzwischen ist der Medienhype abgeflaut, das Finanzsystem und die Verweigerung eines Schuldenerlasses bestehen weiterhin, die propagierte Revolution nicht eingetroffen. Benötigen wir zum wirklichen Umdenken im Finanzsystem noch einmal 5000 Jahre?