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Immer mehr Menschen überwinden die Armut

Mirjam Gehrke11. Januar 2013

In vielen Schwellen- und Entwicklungsländern ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine Mittelschicht entstanden. Die Erfolge bei der Armutsbekämpfung bringen aber auch neue Herausforderungen mit sich.

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Passanten in São Paulo (Foto: AP)
Brasilien Konsum MindestlohnBild: AP

In den vergangenen 15 Jahren haben über eine Milliarde Menschen weltweit die Armut überwunden. Vor allem in China und Indien, aber auch in anderen Schwellenländern wie Brasilien, Vietnam, Südafrika, Russland oder dem Libanon, ist eine Mittelschicht entstanden, die über bescheidenen, aber wachsenden Wohlstand verfügt. Sie ist zum Motor für wirtschaftliche Entwicklung und gesellschaftliche und politische Veränderungen geworden. Im DW-Interview erläutert der Entwicklungspolitik-Experte Alejandro Guaríon, welche politischen, ökologischen und gesellschaftlichen Herausforderungen die Entstehung der neuen globale Mittelschicht mit sich bringt.

DW: Herr Guarín, wie definiert sich die Mittelschicht?

Alejandro Guarín: Die Mittelschicht existiert traditionell in reichen Gesellschaften. Sie umfasst in der Regel die Einkommensgruppen, die jeweils bis zu 25 Prozent über und unter dem Durchschnittseinkommen der Bevölkerung liegen. Die Mittelschicht in Ländern wie Deutschland und den USA ist also traditionell immer im Verhältnis zum Durchschnittseinkommen der Bevölkerung definiert worden.

Alejandro Guarín (Foto DIE)
Alejandro GuarínBild: DIE

Wenn man diese Definition jedoch in Entwicklungsländern anwendet, erhält man ein verzerrtes Ergebnis. Da die Mehrheit der Bevölkerung in diesen Ländern arm ist, ist auch das Durchschnittseinkommen sehr niedrig. Wenn man die Mittelschicht anhand dieses statistischen Referenzwertes ermittelt, dann zählen auch viele arme Menschen zur Mittelschicht. Hier taugt diese Definition also nicht.

Sinnvoller ist für Schwellen- und Entwicklungsländer eine andere Bemessungsgrundlage. Zur Mittelschicht gehören diejenigen, die die Armut überwunden haben. Eine Standarddefinition von Armut ist ein Einkommen von unter zwei US-Dollar pro Tag. Wer also mehr als zwei Dollar pro Tag verdient, gehört demnach zur Mittelschicht. Das wäre die unterste Schwelle. Andere Messmethoden setzen als untersten Schwellenwert zehn, zwanzig oder fünfzig Dollar an.

Welche politischen und wirtschaftlichen Bedingungen sind notwendige Voraussetzungen für die Entstehung einer Mittelschicht?

Der Lebensstandard von Millionen Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern hat sich verbessert, weil die Realeinkommen dieser Menschen gestiegen sind. Die Armutsbekämpfung ist in den vergangenen zwei Jahrzehnte so rasch fortgeschritten wie nie zuvor in der Geschichte. Und die Gruppe der Menschen, die die Armut überwinden und über ein größeres Einkommen verfügen, wächst beständig weiter.

Am deutlichsten lässt sich diese Entwicklung in Asien beobachten, vor allem in China. Ein großer Teil der Armut in China war ländliche Armut. Mehrere hundert Millionen Menschen, die auf dem Land in extremer Armut lebten, sind in die Städte gezogen. Dort haben sie Jobs gefunden und erzielen ein eigenes Einkommen. Wenn wir von der Entstehung und dem Wachstum einer neuen Mittelschicht sprechen, reden wir vor allem von der Reduzierung der ländlichen Armut in China. Das trifft auch auf Indien und andere asiatische sowie einige lateinamerikanische Länder zu.

Das Wachstum der Städte, die zunehmende Urbanisierung, ist also ein Faktor, der zum Wohlstand beiträgt?

Ja, denn Kleinbauern, die überwiegend für den Eigenbedarf produzieren, können kaum zusätzliches eigenes Einkommen erwirtschaften. Wenn diese Menschen in die Städte abwandern, haben sie die Chance, dort eine Arbeit zu finden; sei es im formellen Sektor, wie in China - wo die schnelle Industrialisierung Heerscharen von Arbeitskräften für die Fabriken benötigt - oder im informellen Sektor, wie in Indien und anderen südostasiatischen Ländern.

Beide Optionen haben zu einem bedeutenden Einkommenszuwachs geführt, von einem Null-Einkommen auf dem Land zu einem bescheidenen Lohn in der Stadt. Das hat es einer relativ großen Gruppe von Menschen ermöglicht, die Armutsgrenze von zwei Dollar pro Tag zu überwinden.

Frauen gehen an einem Werbeplakat in einer chinesischen Großstadt vorbei (Foto: AP)
In China ist eine konsumfreudige städtische Mittelschicht entstandenBild: AP

Aber die Entstehung der Mittelschicht ist nicht allein die Folge einer Entwicklung. Wenn nämlich eine wachsende Zahl von Menschen zunehmend weniger arm ist und über bescheidenen, aber wachsenden Wohlstand verfügt, kann daraus eine Spirale entstehen, die mehr Jobs und mehr Entwicklung schafft. Die etwas weniger armen Menschen werden so zum Wachstumsmotor.

Lassen sich diese Entwicklungen auch in anderen Weltregionen beobachten?

Das lässt sich überall beobachten. Es ist eine Wellenbewegung. Die erste Welle hat in den siebziger und achtziger Jahren in Lateinamerika stattgefunden. Danach ist es dort jedoch zu einem Stillstand gekommen.

In größerem Maßstab und wesentlich schneller hat sich diese Entwicklung dann in Asien fortgesetzt, vor allem in China. Das hängt damit zusammen, dass sich die Industrieproduktion aus aller Welt nach China und andere asiatische Länder verlagert hat wie Indien, Vietnam, Thailand, sogar Bangladesch. Die Produktion ist in den neunziger Jahren und zu Beginn der 2000er Jahre sehr schnell von den Industrieländern in diese Länder abgewandert. Das war die zweite große Wachstumswelle der Mittelschicht. Die dritte Welle beobachten wir, wenn auch in geringerem Maße, zurzeit in Afrika. Auch dort steigen die Realeinkommen der Menschen.

Begreifen sich diese "weniger armen Menschen" selbst auch schon als Mittelschicht?

Nein. Auch wenn wir von einer "neuen Mittelschicht" sprechen, reden wir doch von Menschen, die gerade erst die Armut überwunden haben. Eine Mittelschicht, wie wir sie in den Industrieländern, in Europa und den USA, begreifen, ist nicht nur ein wirtschaftliches, sondern auch ein kulturelles Phänomen. Sie definiert sich nicht allein über höhere Einkommen, sondern auch über ein höheres Bildungsniveau, Zugang zu bestimmten staatlichen Leistungen, zum Beispiel im Gesundheitswesen, bei der Rente, dem Zugang zu Medien. Davon sind die Schwellenländer noch weit entfernt. Dort sind die Einkommen zwar gestiegen, aber damit ist keine soziokulturelle Entwicklung einhergegangen, wie wir sie in den reichen Ländern beobachten.

Inwiefern kann diese neue Mittelschicht denn, ausgehend von ihrem wirtschaftlichen Aufstieg, auch einen politischen und gesellschaftlichen Wandel herbeiführen?

Diese Erwartung ist überzogen. Die Rolle der Mittelschicht bei den politischen Umbrüchen in der arabischen Welt und im Nahen Osten lässt sich nicht eindeutig belegen. Auslöser des Arabischen Frühlings war eine Mischung aus der Unzufriedenheit einer wachsenden Mittelschicht und dem Unmut einer großen, verarmten Unterschicht, die auf die Straße gegangen ist.

Ein größeres verfügbares Einkommen verändert das Konsumverhalten. Welche Folgen ergeben sich für Umwelt und Klima?

Fleischtheke in einem Supermarkt in China (Foto: AFP/Getty Images)
Der steigende Wohlstand führt zu einer vermehrten Nachfrage nach Fleischprodukten in AsienBild: STR/AFP/Getty Images

Die veränderten Konsumgewohnheiten sind in der Tat eine eindeutige und direkte Folge des wachsenden Wohlstandes. Die steigende Nachfrage nach Autos und Klimaanlagen und nach besserem Wohnraum stellt uns vor Probleme. China ist heute schon der größte CO2-Produzent der Welt, dicht gefolgt von Indien.

Das Entwicklungsmodell der Industrieländer, von dem zum Beispiel die deutsche Gesellschaft profitiert hat, ist nicht nachhaltig, da es auf einem hohen Verbrauch an Rohstoffen basiert. Wenn die Verbesserung der Lebensbedingungen der neuen Mittelschicht in den Schwellen- und Entwicklungsländern dem Vorbild Europas und der USA folgt, dann stehen wir vor großen Problemen.

Es gibt weltweit immer noch eine Milliarde Menschen, die hungern oder unterernährt sind. Was bedeutet die Entstehung der neuen Mittelschicht und damit auch von neuen Wirtschaftsmächten im globalen Süden für die klassische Entwicklungshilfe der Industrieländer?

Das ist eine paradoxe Situation. China und Indien verfügen als Staat jeweils über ein stabil wachsendes Bruttoinlandsprodukt, so dass die Staatengemeinschaft entschieden hat, die Entwicklungshilfe für diese Länder zu reduzieren oder ganz einzustellen. Wenn man aber untersucht, wo sich die Armut in der Welt konzentriert, dann sind das genau diese beiden Länder. Es gibt in China und Indien mehr arme Menschen als in ganz Afrika.

Die internationale Staatengemeinschaft steht vor einem Dilemma. China hat ein durchschnittliches mittleres Einkommensniveau erreicht, es ist kein Entwicklungsland mehr. Aber obwohl der Anteil der Armen an der chinesischen Bevölkerung prozentual zurückgegangen ist, leben in absoluten Zahlen gemessen immer noch Millionen Menschen in China in Armut.

Man kann die Ansicht vertreten, dass die Armut eine innere Angelegenheit Chinas ist und dass die internationale Staatengemeinschaft sich nicht einmischen, sondern die Entwicklungshilfe auf Länder konzentrieren sollte, die wirklich arm sind. Das sind die Länder Afrikas. Andere halten dagegen, dass gerade in dieser Situation die Kooperation mit China vertieft werden sollte, damit das Land die notwendigen Reformen einleiten kann, um die Armut zu verringern. China ist jedoch ein wichtiger Akteur auf der weltpolitischen Bühne. Es wird daher nicht so einfach sein, politische Reformen in China von außen anzustoßen.

Während in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern neuer Wohlstand entsteht, beobachten wir in den USA und in Europa, wie die Mittelschicht ums Überleben kämpft. Hängen diese beiden Entwicklungen zusammen?

Es gibt die These, dass die Erosion der Mittelschicht in Ländern wie den USA, Deutschland oder Italien direkt damit zusammenhängt, dass viele Jobs aus diesen Ländern nach China und in andere Länder Asiens verlagert worden sind. Der wachsende Wohlstand dieser Länder hätte folglich eine wachsende Armut in den Industrieländern verursacht.

Stau in der Innenstadt von Luanda, Angola (Foto: DW)
Die angolanische Hauptstadt Luanda ist für den zunehmenden Verkehr noch nicht gerüstetBild: DW

Ich glaube jedoch nicht an diesen ursächlichen Zusammenhang. Die Erosion der Mittelschicht in den Industrieländern hat eher damit zu tun, dass die Einkommen der Mittelschicht im Verhältnis zu den Reichen seit vielen Jahren stagnieren. Das reale Wirtschaftswachstum der letzten 20 Jahre hat nur eine Minderheit an der Spitze der Einkommensverteilung begünstigt. Was wir in Europa und den USA derzeit beobachten, ist in erster Linie ein internes Verteilungsproblem, das nichts mit dem Wachstum der Mittelschicht in anderen Ländern zu tun hat. Es handelt sich um zwei parallele Prozesse, die aber nicht ursächlich miteinander zu tun haben.

Alejandro Guarín ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik in Bonn.

Das Interview führte Mirjam Gehrke.

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