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Grenzenloses Recht?

Christoph Hasselbach6. Oktober 2015

Das deutsche Asylrecht ist eines der weitestgehenden der Welt - und steht gerade deswegen heute unter Druck. Wie hat es sich entwickelt? Und kann es so bleiben? Darüber sind die Meinungen geteilt.

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Das aufgeschlagene Grundgesetzt mit Blick auf Artikel 16 a (Foto: Arnd Riekmann (ARIK))
Bild: Arnd Riekmann (ARIK)

"Politisch Verfolgte genießen Asylrecht". So steht es knapp und eindeutig in Artikel 16a des deutschen Grundgesetzes. Von Obergrenzen oder Relativierungen ist dort nicht die Rede. Nach den Worten des Hamburger Rechtsphilosophen Reinhard Merkel ist Deutschland "eins der ganz wenigen Länder, die ein echtes individuelles Grundrecht auf Asyl einräumen." Das Völkerrecht kenne ein solches Recht nicht, sagt Merkel, ebenso wenig die allermeisten Staaten. Und das war so gewollt: Unter dem Eindruck der riesigen Fluchtbewegungen während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg bekam die Bundesrepublik Deutschland das vielleicht großzügigste Asylgesetz weltweit. Bis zu seiner Änderung 1993 galt das Asylrecht schrankenlos.

Solange nur verhältnismäßig wenige Menschen politisches Asyl beantragten, hatten Politik und Gesellschaft kein Problem damit. Doch während der Jugoslawien-Kriege Anfang der 90er Jahre flohen plötzlich Hunderttausende nach Deutschland. Es gab tödliche Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte. Fast drei Viertel der Deutschen forderten in einer Umfrage Anfang 1992, die Zahl der Asylbewerber müsse gesenkt werden.

Nach einer heftigen innenpolitischen Debatte schränkte die damalige CDU/CSU-FDP-Koalition mit Zustimmung der SPD-Opposition im sogenannten Asylkompromiss die Möglichkeiten des politischen Asyls ein. Die wichtigste Änderung: Wer über einen sicheren Drittstaat - und das sind alle Nachbarstaaten Deutschlands - einreiste, kann seit 1993 kein Grundrecht auf Asyl mehr beanspruchen. Theoretisch hatte sich Deutschland damit hermetisch abgeschottet. Und tatsächlich ging die Zahl der Asylanträge von 1993 an immer weiter zurück, bis auf weniger als 20.000 im Jahr 2007 - wohlgemerkt, in einem ganzen Jahr.

Menschenmenge Foto: Reuters/D. Ebenbichler
Großer Andrang trotz Grenzkontrollen: Flüchtlinge am Grenzübergang FreilassingBild: Reuters/D. Ebenbichler

Der Puffer funktioniert nicht mehr

Heute kommen genauso viele Menschen an zwei bis drei Tagen nach Deutschland, weitgehend unkontrolliert. Die staatlichen Stellen wissen längst nicht mehr, wie viele es sind und aus welchen Ländern die Migranten kommen. Der Grund, warum die alte Regelung nicht mehr funktioniert, ist einfach: Einige EU-Nachbarländer lassen Migranten einfach passieren, statt deren Asylanträge zu prüfen und sich um die Menschen zu kümmern, wie es nach EU-Recht eigentlich ihre Pflicht wäre. Der "Puffer" der Drittstaaten funktioniert nicht mehr. Und Deutschland andererseits hätte zwar das Recht, die Menschen zurückzuschicken, verzichtet aber aus politisch-moralischen Gründen meist darauf.

Mitte September führte die Bundesregierung unter dem Druck eines immer stärker anschwellenden Flüchtlingsstroms vorübergehend wieder Kontrollen an der Grenze zu Österreich ein. Migranten dürfen aber weiterhin die Grenze überqueren. Auch eine Reform des Asylrechts Ende September, bei der weitere Balkanländer zu "sicheren Herkunftsländern" erklärt wurden, deren Staatsbürger normalerweise kein Asyl beanspruchen können, bremste den Zustrom nicht. Ebenso wenig haben Änderungen bei der Versorgung von Asylbewerbern und bei der Erstunterbringung eine Entlastung gebracht.

Kann die Bundesregierung auf Dauer auf eine Obergrenze verzichten? Vor allem einige CSU-Politiker wollen das Grundrecht auf Asyl weiter einschränken oder den Familiennachzug begrenzen. Rechtlich ist das alles schwierig. Doch auch wenn es beim politischen Asyl oder bei Bürgerkriegsflüchtlingen rein rechtlich keine Obergrenze gibt, gibt es doch faktische Aufnahmegrenzen, Grenzen der Unterbringung etwa oder finanzielle Grenzen.

Partystimmung bei Essenausgabe Foto: picture-alliance/dpa/P. Endig
Nach der Willkommenseuphorie macht sich unter den Deutschen Skepsis breitBild: picture-alliance/dpa/P. Endig

Irgendwann eine Volksabstimmung?

Reinhard Merkel sagt, es sei die schwierige Aufgabe der Politik, diese festzulegen. Dabei gehe es aber nicht nur "um die Grenze des absolut nicht mehr Möglichen, sondern um die Grenze des nicht mehr Zumutbaren". Wo diese Grenze liegt, darüber ist die Debatte in vollem Gange. Viele glauben - und dazu zählt offenbar die Bundeskanzlerin -, das Ende der Fahnenstange sei noch längst nicht erreicht. Andere halten sie bereits für überschritten.

Der Rechtsphilosoph Merkel, der nur zufällig den gleichen Nachnamen wie die Bundeskanzlerin hat, sieht Grenzen des Zumutbaren aber auch auf kulturellem Gebiet. Er ist der Meinung, dass es ein "fundamentales Recht politischer Gemeinschaften" geben müsse, "ihre innere Struktur, ihre geschichtlich gewordene Lebensform und vor allem ihre Prinzipien zu erhalten und zu verteidigen, wenn ein zu intensiver Zustrom von Migranten diese innere Kultur und Lebensform anzutasten droht." Doch noch mehr als bei finanziellen und organisatorischen Belastungen wenden an diesem Punkt Kritiker ein, Deutschland habe sich immer verändert und weder ein Recht noch die Mittel, sich gegen einen solchen Wandel zu stemmen.

Eine andere Frage ist, ob nicht irgendwann die Bevölkerung gefragt werden muss. Reinhard Merkel findet, der Punkt sei bald erreicht, wo es "entweder Neuwahlen oder eine Volksabstimmung zu diesem Thema" geben muss. Sonst, befürchtet er, "staut sich hier ein Potential von Unzufriedenheit, das sich bei den nächsten Wahlen auf eine destruktive Weise entladen kann".