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Asylzahlen in Deutschland: Türkei überholt Afghanistan

11. August 2023

Immer mehr Menschen aus der Türkei fliehen nach Deutschland. Das hat vor allem zwei Gründe.

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Flüchtlinge auf dem Gelände der Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber des Landes Brandenburg
Flüchtlinge auf dem Gelände der Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber des Landes BrandenburgBild: Patrick Pleul/ZB/dpa/picture alliance

"Jeden Tag in Angst und Unsicherheit zu leben und jede Sekunde damit zu rechnen, dass die Polizei nochmal kommt, dich aus dem Bett reißt, zur Wache bringt und foltert… Das konnten wir nicht mehr aushalten. Nach dem Tod meines Vaters haben wir das Land verlassen". Der ehemalige Englischlehrer B.K. spricht leise und ruhig. Er erzählt, wie er und seine Frau an jenem Morgen des 1. November ihrer türkischen Heimat den Rücken kehrten und sich ins gefährliche Gewässer der Ägäis begaben. Sieben Wochen danach kamen sie in Deutschland an. Seitdem lebt das Paar in Flüchtlingsheimen - derzeit in einem großen bei Aachen.

Vor kurzem haben die Eheleute Asyl beantragt. Derzeit warten sie auf den Bescheid. Beide wurden in der Türkei verurteilt wegen Mitgliedschaft in der "Gülen-Organisation". Die Bewegung des in den USA lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen gilt im Land als Terrororganisation. Die türkische Regierung wirft dieser vor, hinter dem Putschversuch von 2016 zu stecken. 

Bei Herkunftsländern hat die Türkei Afghanistan überholt

Wie das Paar K. stellten dieses Jahr bis Ende Juli mehr als 23.000 türkische Staatsbürger einen Asylantrag in Deutschland. Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ist das ein Zuwachs von 203 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Im Index der Herkunftsländer 2023 steht die Türkei nach Afghanistan und Syrien an dritter Stelle.

Betrachtet man nur den Juli, so steht die Türkei sogar hinter Syrien an zweiter Stelle. Mit 3791 Anträgen haben sich im vergangenen Monat mehr Menschen aus der Türkei um Asyl beworben als Afghaninnen und Afghanen.

Für Türkei-Experten ist das keine überraschende Entwicklung. Nach dem erneuten Wahlsieg des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan hatten dies viele bereits vorausgesagt.

"Zumindest die Hälfte, die nicht Erdogan gewählt hat, ist enttäuscht", sagt Dündar Kelloglu, Rechtsanwalt und Vorstandsmitglied des Flüchtlingsrats Niedersachsen. Diese Hälfte habe auf einen Regierungswechsel gehofft und auf Verbesserungen der politischen und wirtschaftlichen Lage. Kelloglu beobachtet, dass sich im Land derzeit eine tiefe Depression bei den Oppositionellen breit macht. "So eine pessimistische Stimmung hat es nicht mal nach dem Militärputsch 1980 gegeben", sagt er im Interview mit der DW. Seiner Ansicht nach ist die politische Lage noch immer sehr angespannt. Die Verfolgung Andersdenkender gehe unvermindert weiter.  

Insbesondere seit dem Putschversuch von 2016 geht die türkische Regierung noch härter gegen die Kritiker vor. Tausende Oppositionelle sitzen seit Jahren in Haft, mehrere Tausende haben wegen Terrorverdacht ihre Jobs verloren. Wer sich um eine Stelle bewirbt, sei es im öffentlichen Dienst oder in großen Teilen der Privatwirtschaft, braucht gute Kontakte zur Regierungspartei oder zu ihr nahstehenden religiösen Stiftungen und Bruderschaften. Viele Oppositionelle sind frustriert und verlassen ihr Land.      

Keine Meinungsfreiheit - Dafür Inflation und Arbeitslosigkeit

Hinzu kommt nach Ansicht von Dr. Yasar Aydin, Migrationsforscher der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), dass der Türkei derzeit eine Wirtschaftskrise droht, die zu überwinden weitere Entbehrungen und Wohlstandseinbußen erfordern werde. Und das alles führe dazu, dass die Zukunftsaussichten vor allem gut ausgebildeter Menschen von Tag zu Tag düsterer würden und viele in der Türkei für sich keine gute Zukunft mehr sähen und sich auf den Weg nach Deutschland machten. 

Die wirtschaftliche Lage hat sich in der Türkei insbesondere während der vergangenen beiden Jahre rapide verschlechtert. Vor allem  wegen der Niedrigzinspolitik des türkischen Staatspräsidenten Erdogan verliert die Lira ununterbrochen an Wert und die Inflation schießt ungebremst in die Höhe. Zuletzt lag sie nach offiziellen Angaben bei rund 48 Prozent. Für das Jahresende rechnet die Zentralbank sogar mit 58 Prozent. Große Teile der Bevölkerung verarmen.

Nach den Wahlen im Mai versprach Erdogan Verbesserungen. Mit der Berufung von Vertretern der konventionellen volkswirtschaftlichen Lehre in Finanzministerium und Zentralbank  hat der Präsident eine Abkehr von seiner Niedrigzinspolitik eingeleitet. Seitdem wurden die Steuern und der Leitzins mehrmals kräftig angehoben, woraufhin die Inflation noch mehr in die Höhe schnellte.

Im Frühjahr 2024 finden in der Türkei die Kommunalwahlen statt. Erdogan will die Inflation vorher unter die Kontrolle bringen und Metropolen wie Istanbul, Ankara, Izmir und Antalya, die den großen Teil der Wirtschaftsleistung des Landes ausmachen, von der Opposition zurückerobern.

Eine Polizistin kontrolliert die Pässe von zwei männlichen Migranten, die auf einer Bank. sitzen
Eine Beamtin der Bundespolizei bewacht zwei Migranten, die zuvor inFrankfurt (Oder) nahe der deutsch-polnischen Grenze aufgegriffen wurdenBild: Patrick Pleul/dpa-Zentralbild/picture alliance

Die Zahl hat sich verdreifacht

An eine Verbesserung der wirtschaftlichen und politischen Lage glauben anscheinend nicht Viele. Insbesondere gut Ausgebildete und Oppositionelle verlassen ihre Heimat. Mit drei Millionen Türkeistämmigen, Familien und Bekannten, dazu auch etablierten Netzwerken und Strukturen ist Deutschland ein attraktives Zielland für viele Menschen aus der Türkei, die auch über irreguläre Wege nach Deutschland zuwandern. 

2021 waren es 7067 türkische Staatsbürger, die in Deutschland Schutz gesucht haben. Nur ein Jahr später hatte sich die Zahl der Asylanträge mehr als verdreifacht und sie erreichte 23.938. Im laufenden Jahr wurde die Marke 23.000 bereits Ende Juli überschritten. 

Der Migrationsforscher Yasar Aydin geht davon aus, dass die Zahl der Schutzsuchenden in den kommenden Jahren noch steigen oder auf diesem hohen Niveau bleiben wird. "Die politischen Entwicklungen und die bevorstehenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten sprechen dafür, dass die Abwanderung aus der Türkei sich fortsetzt", prognostiziert er.

Anerkennungsquote sinkt

Während die Zahl der türkischen Schutzsuchenden kräftig anstieg, sank die Anerkennungsquote in den vergangenen Jahren kontinuierlich. Dieses Jahr liegt sie bei 15 Prozent. 2022 hatte sie noch bei 27,8 Prozent gelegen.

Warum die Schutzquote so drastisch gesunken? Vertritt das BAMF die Einschätzung, dass sich Menschenrechtslage und Rechtstaatlichkeit in der Türkei verbessert haben? Das BAMF teilt dazu mit, dass jedes Asylverfahren individuell betrachtet werde und gesellschaftliche und aktuelle Entwicklungen in den Heimatländern der Antragssteller grundsätzlich in die sogenannten Länderleitsätze einflössen. Diese Einschätzungen spielen bei der Prüfung eines Antrags eine Rolle für die Entscheidung, ob Schutz gewährt wird oder eine Ablehnung erfolgt.      

Kelloglu vom Flüchtlingsrat kritisiert die Haltung des BAMF. Während sich die Lage in der Türkei nicht verbessert habe, habe das BAMF seine Türkei-Einschätzung verändert. Ihm zufolge bekamen Menschen früher Schutz, wenn sie politisch verfolgt wurden oder ihnen eine Haftstrafe drohte. Seit einigen Jahren dagegen erkenne die Behörde nur noch Gesuche von Menschen an, die rechtskräftig zu Haftstrafen verurteilt worden seien. Wer gesucht werde oder einen noch laufenden Prozess habe, bekomme eine Ablehnung.

Laut Kelloglu wird dies damit begründet, dass die Verfolgten von höheren Instanzen eventuell freigesprochen werden. Einige wenige Gerichte in Deutschland vertreten laut Kelloglu sogar die Ansicht, dass bei Meinungsdelikten in der Türkei keine lange Verurteilung zu erwarten sei. "Daher die sinkende Schutzquote", so der Rechtsanwalt.  

Der türkische Englischlehrer B.K., der mit seiner Frau im Juni einen Asylantrag gestellt hat, ist zuversichtlich. "Wir hoffen auf einen positiven Bescheid", sagt er. Sonst wisse er nicht, wohin sie gehen. Denn die Familie habe den Kontakt schon bei der Verurteilung abgebrochen, weil sie Repressionen befürchtete. "Also wir haben nur die Hoffnung, und uns, sonst nichts und niemanden".

Wie gelingt es, in Deutschland Wurzeln zu schlagen?

Elmas Topcu | Journalistin
Elmas Topcu Reporterin und Redakteurin mit Blick auf die Türkei und deutsch-türkische Beziehungen@topcuelmas