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Politik

Auch Tito hätte Jugoslawien nicht gerettet

29. Oktober 2020

Josip Broz "Tito", der Begründer des sozialistischen Jugoslawiens, war kein demokratischer Herrscher - aber auch kein Diktator wie Hitler oder Stalin, sagt die deutsche Historikerin Marie-Janine Calic.

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Josip Broz Tito
Josip Broz, genannt "Tito" (1892-1980)Bild: Heinrich Sanden/dpa/picture-alliance

DW: Josip Broz, genannt "Tito", ist seit 40 Jahren tot. Was für sein Leben und Wirken relevant war, gibt es nicht mehr: Jugoslawien, den Sozialismus, die bipolare, in Blöcke geteilte Welt, eine bedeutende Bewegung der Blockfreien... Trotzdem haben Sie  jetzt eine Broz-Biographie geschrieben: "Tito. Der ewige Partisan". Warum beschäftigt man sich heute noch mit diesem Mann?

Marie-Janine Calic: Tito ist eine der interessantesten historischen Figuren des 20. Jahrhunderts. Er ist einerseits ein Produkt des Jahrhunderts der Extreme: extremer Ideologien, extremer Gewalt, auch extremen Vorstellungen, wie man Gesellschaften nach dem kommunistischen Modell umformatieren kann. Die Frage, wie Tito zu dem wurde, was er war, ist nicht trivial. Interessant ist zu sehen, wie es ihm gelungen ist, Jugoslawiens Unabhängigkeit so lange zu bewahren - und wie er es geschafft hat, ein Land, das so heterogen war wie Jugoslawien, mit so vielen Gruppen, Interessen und Problemen, doch über 35 Jahre lang stabil zu halten. Diese Fragen sind auch aus der heutigen Perspektive sehr aktuell, in einer Zeit, in der die Welt wieder aus den Fugen zu geraten scheint.

Marie-Janine Calic
Marie-Janine CalicBild: privat

Das 20. Jahrhundert war in Europa die Zeit der Diktatoren und Massenmörder. War Tito einer von ihnen?

Tito passt in keine Schublade. Seine Herrschaft war ganz auf seine Person zugeschnitten. Und das Interessante an Tito sind die Eigenheiten seines Herrschaftssystems sowie die Tatsache, dass er sich über die Jahre und Jahrzehnte stark veränderte und seine eigene Rolle in unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich definiert und ausgefüllt hat. Das Etikett Diktator passt meines Erachtens nur, wenn man den Begriff ganz allgemein als ‘nicht demokratischen Herrscher‘ definiert. Aber Titos Diktatur war nicht vergleichbar mit der Hitlers oder Stalins. Es gab in Jugoslawien keine massiven politischen Säuberungen in der eigenen Partei. Es gab keinen Völkermord. Jugoslawien hat keinen Angriffskrieg geführt.

Richtig ist, dass Tito nach dem Zweiten Weltkrieg ein stalinistisches System errichtet hat. Er wollte in Jugoslawien ein Modell aufbauen wie in der Sowjetunion. Aber schon in dieser Phase hat sich die jugoslawische Regierung, anders als die sowjetische, bemüht, die Bevölkerung stärker zu überzeugen.

Und schon 1948 kam es zum Bruch mit Stalin. Danach wurden erst die kommunistische Partei und dann der ganze Staat liberalisiert, bis hin zu einer gewissen Medienfreiheit und Meinungspluralismus. Es gab auch die Reisefreiheit, die in diesem Maße im Ostblock gar nirgends existiert hat. Trotzdem war das jugoslawische System nicht demokratisch im westlichen Sinn, denn es existierten weiter auch Repressionen. Es gab politische Prozesse, Berufsverbote, die Feinde des Regimes im Ausland wurden liquidiert. Deshalb ist es problematisch, Tito irgendein Etikett zu verpassen.

Marie-Janine Calic: "Tito. Der ewige Partisan"
Das Cover von Marie-Janine Calics Tito-BiografieBild: Verlag C.H. Beck/dpa/picture-alliance

Tito war sehr populär im Inland, aber auch im Ausland. Er wurde als großer Staatsmann gefeiert. Warum?

Es kam in den 1960er Jahren zu einer ganzen Welle der Entkolonialisierung, viele Staaten wurden unabhängig, vor allem in Asien und in Afrika. Diese Staaten sahen in Tito in gewisser Weise ein Vorbild.

Die Partisanen von Titos Volksbefreiungsarmee haben die fremde Besatzung im Zweiten Weltkrieg weitgehend aus eigener Kraft abgeschüttelt - da galten die Jugoslawen als ein Vorbild für andere Befreiungsbewegungen.

Und dann hat Tito nach dem Zweiten Weltkrieg bewiesen, dass man so ein Land, das einmal sehr arm gewesen ist, in relativ kurzer Zeit zu Wohlstand führen kann. Und dass es auch möglich ist, innere Konflikte zu befrieden, also ethnische Konflikte. Viele Länder in der Dritten Welt hatten ja genau solche Probleme, also kulturelle, ethnische, religiöse Konflikte. Und große Armut. Auch da war Jugoslawien ein Vorbild.

Zudem ist es eine Tatsache, dass Jugoslawien es geschafft hat, blockfrei zu bleiben und den Einfluss sowohl der Amerikaner als auch der Sowjetunion fernzuhalten. Die damalige außenpolitische Situation war für viele Staaten ein Problem. Denn es war die Zeit des Kalten Krieges, in dem die beiden Blöcke darum wetteiferten, wer in der Dritten Welt den meisten Einfluss hat.

Tito hat vorgemacht, wie das ging: von Ost und von West immer schön Kredite zu kriegen, alle Vorteile mitzunehmen - und dafür kaum einen politischen Preis zu zahlen.

Gamal Abdel Naser, Josip Broz Tiro und Jawaharlal Nehru
1956 gründeten Gamal Abdel Nasser, Josip Broz Tito und Jawaharlal Nehru auf der Adriainsel Brioni die Bewegung der BlockfreienBild: picture-alliance/United Archives/TopFoto

Tito war aber nicht nur in der Dritten Welt populär, sondern auch in der Ersten, im Westen insbesondere bei den Linken...

Tito repräsentierte für die europäische Linke einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz, wie es hieß. Die Arbeiterselbstverwaltung, die es in Jugoslawien gab und die in Reaktion auf den Bruch mit der Sowjetunion erst entstanden war und entstehen konnte, galt der westlichen Linken als ein demokratischeres Modell des Sozialismus. Im Gegensatz zu der vollständigen Verstaatlichung der Produktionsmittel im Ostblock gab es in Jugoslawien in Form der Arbeiterräte eine große Mitbestimmung. Es gab auch die Möglichkeit, in gewissen Grenzen Privateigentum zu haben und Privatwirtschaft zu betreiben. Und es gab die Reisefreiheit.

Das schien vielen westlichen Linken der Beweis dafür zu sein, dass es möglich ist, eine gerechte, eine sozialistische Ordnung aufzubauen, die ohne diese großen Repressionen, Verwerfungen und Zwangsmittel des stalinistischen bzw. sowjetischen Systems auskam. Das war natürlich in großen Teilen Wunschdenken, eine Illusion. Aber in den Sechzigerjahren und auch noch zu Beginn der Siebziger war das immens populär.

Das System des sozialistischen Jugoslawiens war im Wesentlichen auf Tito ausgerichtet. Auch wenn er nicht diktatorisch regierte, behielt er immer das letzte Wort. Ist das der Grund, weswegen es nach Titos Tod nicht mehr möglich war, Jugoslawien zu erhalten?

Jugoslawien Tito und Schmidt 1974
Auch im Westen geschätzt: Jugoslawiens Präsident Tito und Bundeskanzler Helmut Schmidt in Bonn, 1974Bild: Getty Images/Hulton Archive

Tito hat Jugoslawien autokratisch regiert und er hat viele Entschlüsse letztlich herbeigeführt, auch dann, wenn sich die Repräsentanten der verschiedenen Republiken nicht einigen konnten. Er hat oft versucht, zu vermitteln - aber wenn es ihm notwendig erschien, hat er auch politische Führungen aus dem Amt geworfen. Ich glaube aber, dass diese Art zu regieren in den Siebzigerjahren bereits an ihr Ende gekommen ist.

Tito selber hat das auch erkannt, denn er hat ja versucht, seine Nachfolge dadurch zu regeln, dass er ein kollektives Staatspräsidium ins Leben rief. Da waren alle Republiken und auch die beiden autonomen Provinzen der jugoslawischen Föderation vertreten. Er tat das in der Hoffnung, dass sich kollektive Entscheidungen aufrechterhalten lassen würden und das Land dadurch Bestand haben würde.

Aber es zeigte sich dann doch, dass bei Titos Tod 1980 die Probleme in Jugoslawien schon so groß geworden waren, dass dieser Interessenausgleich nicht mehr möglich bzw. politisch nicht mehr gewollt war. Dazu kam auch eine tiefgreifende Wirtschaftskrise, die sich in eine System- und dann Staatskrise übertragen hat. Es ging also nicht nur darum, dass Tito als Integrationsfigur nicht mehr existierte.

Zum Beispiel sind die Unterschiede zwischen den verschiedenen Teilen Jugoslawiens während der 35 Jahre von Titos Herrschaft nicht geringer geworden, sondern eher größer. Am Ende des Zweiten Weltkriegs waren die Slowenen pro Kopf im Durchschnitt etwa dreimal so reich wie die Menschen im Kosovo. In den Achtzigerjahren, also nach Titos Tod, waren die Slowenen schon neunmal so reich wie die Kosovaren.

Das heißt natürlich, dass auch die Interessenunterschiede größer geworden sind, weil eine Wirtschaft wie die slowenische, die fast so funktioniert wie in Österreich, ganz andere Bedürfnisse hat und ganz andere Reformanforderungen stellt, als ein noch sehr agrarisch orientiertes System, wie das im Kosovo und zum Teil in Bosnien der Fall war, wo der Staat noch eine viel größere Aufgabe hatte.

Ich glaube, dass auch Tito, wenn er noch gelebt hätte, diese Dynamik nicht mehr hätte aufhalten können.

Josip Broz Tito und Alexander Dubcek 1968 in Prag
An der Seite der Reformkommunisten in der Tschechoslowakei: mit Alexander Dubcek 1968 in PragBild: picture-alliance/CTK Photo/J. Rublic

Wenn von den Jugoslawienkriegen der 1990er Jahre die Rede ist, insbesondere im Ausland, wird gerne das Bild eines Kochtopfes bemüht: In dem hätte es die ganze Zeit schon gebrodelt aufgrund ethnischer Spannungen - aber Tito hätte durch sein autoritäres Regime den Deckel draufgehalten. Als er starb, kochten die Spannungen über. Sind Sie mit diesem Bild einverstanden?

Nein. Das ist ganz unhistorisch. Der jugoslawische Raum und Jugoslawien als Staat haben sehr lange sehr friedlich gelebt und die Probleme, die sich auftaten, waren ja keine zwischenmenschlichen.

Im Gegenteil. Alle soziologischen Untersuchungen und auch Umfragen, selbst noch in den 1980er Jahren, zeigen, dass die Menschen, wenn man sie gefragt hat, wie sie mit ihren Nachbarn zusammenleben, immer gesagt haben ‘Ich habe da kein Problem, dass da Menschen anderer Nationalität meine Nachbarn sind‘. Es gab Ehen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Volks- und Religionsgruppen. Also diese Vorstellung, dass multiethnisches Zusammenleben zwangsläufig immer in Mord und Totschlag endet, das ist historisch überhaupt nicht belegt.

Es gab aber politische Konflikte, die sich aus unterschiedlichen Interessenlagen ergaben, vor allem sozialer und ökonomischer Art. Wie dann damit umgegangen wurde, das steht auf einem anderen Blatt. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass man mit diesen Problemen hätte anders umgehen müssen und dass dieser furchtbare Zerfallskrieg und die Nachfolgekriege hätten vermieden werden können und müssen.

Das Gespräch führte Zoran Arbutina

Das Buch "Tito. Der ewige Partisan" erschien im September 2020 bei H.C. Beck. ISDN: 978-3-406-75548-4

Marie-Janine Calic ist Professorin für Ost- und Südosteuropäische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). 1995 war sie Beraterin des UN-Sondergesandten für das ehemalige Jugoslawien in Zagreb, von 1999-2002 politische Beraterin des Sonderkoordinators des Stabilitätspakts für Südosteuropa in Brüssel. 2010 erschien ihr Buch "Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert".