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Gesellschaft

Flüchtlinge in Nigeria suchen Angehörige

22. Februar 2017

Viele der zwei Millionen Flüchtlinge um den Tschadsee verloren ihre Angehörigen aus den Augen, als sie vor der Brutalität der Terrormiliz Boko Harams flüchteten. Das Rote Kreuz und ein Radiosender helfen bei der Suche.

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Warten auf die verlorene Tochter
Bild: DW/T.Mösch

Die kleine Frau mit dem Aufnahmegerät ist kaum aus dem Auto ausgestiegen, da wird sie schon von Dutzenden Frauen und Männern umringt. Eine der Frauen stellt sich als Jamila vor und berichtet, dass die Terroristen ihren Mann vor über drei Jahren entführt hätten und sie ihn seitdem nicht wiedergesehen habe. Die Frauen und Männer leben in einem kleinen Flüchtlingslager am Rande von Maiduguri, der Hauptstadt des nigerianischen Bundesstaates Borno.

Die Frau mit dem Aufnahmegerät heißt Yachilla Bukar und ist Redakteurin des Radiosenders "Dandal Kura". Sie ist zu den Flüchtlingen gefahren, um denjenigen unter ihnen eine Stimme zu geben, die immer noch Angehörige vermissen.

Von Maiduguri aus sendet "Dandal Kura" über Kurzwelle in den Regionalsprachen Haussa und Kanuri.

Der Name bedeutet auf Kanuri "große Arena". Diese "Arena" soll den Menschen rund um den Tschadsee Raum für Diskussionen und einen Austausch von Informationen bieten, um der radikalen Ideologie der Terroristen von Boko Haram entgegenzuwirken.

Suchdienst per Radio

Hoffnung machen auf eine Zukunft in Frieden, das will seit einigen Monaten die Sendung, für die Yachilla Bukar nun recherchiert. "Familienbande" heißt das Programm, in dem sie jede Woche eine halbe Stunde lang Menschen zu Wort kommen lässt, die nach ihren Kindern, Eltern oder Geschwistern suchen. Die meisten melden sich per Telefon. Bis zu 100 Anrufe erhält Bukar am Tag.

"Ich führe eine Liste und die arbeite ich dann der Reihe nach ab", erzählt die Journalistin der DW. "Ich nehme jeweils zehn bis 20 Meldungen und die kommen dann in die nächste Sendung."

Die Sendung werde von Woche zu Woche bekannter, sagt Bukar. Das merke sie an den steigenden Anruferzahlen.

Yachilla Bukar von "Dandal Kura"
Yachilla Bukar vom Radiosender "Dandal Kura" (rechts) spricht mit Flüchtlingen, die immer noch Angehörige vermissenBild: DW/T.Mösch

"Ich gebe ja jedes Mal die Telefonnummer bekannt. Die Leute rufen dann aus Nigeria an, aber immer häufiger auch aus Tschad, Kamerun und Niger." In den ersten Monaten habe sie schon sieben Flüchtlinge mit ihren Angehörigen zusammen bringen können, erzählt sie.

Wiedersehen nach zwei Jahren

Komplizierte Fälle leitet "Dandal Kura" an das Rote Kreuz weiter, das schon seit 2014 von Nigerias Hauptstadt Abuja aus das Programm zur "Wiederherstellung von Familienbanden" betreibt.

Wenn alles gut läuft, führt das dann zu Szenen, wie sie sich kürzlich wieder am Flughafen von Maiduguri abgespielt haben: Mutter Falmata (Namen der Familienmitglieder von der Redaktion geändert) rennt mit Tränen in den Augen auf ihre Tochter Yabawa zu, die aus einem Flugzeug des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) aussteigt. Auch Vater Bukar weiß nicht, ob er weinen oder lachen soll. Zwei Jahre lang hatten sich Eltern und Tochter nicht gesehen.

Vater, Mutter und Tochter bei ihrem ersten Wiedersehen nach zwei Jahren
Die Eltern wussten zwei Jahre lang nicht, wo ihre Tochter war - sie sind nun froh, sie endlich wieder umarmen zu könnenBild: DW/T.Mösch

"Als Boko Haram damals unser Dorf angegriffen hat, sind wir einfach weggelaufen. Unsere Tochter haben wir dabei aus den Augen verloren", berichtet Falmata. Die Eltern haben dann gleich die Bürgerwehren um Hilfe gebeten, die die Dörfer gegen Boko Haram verteidigten. Aber erst das Rote Kreuz hat die jetzt 14-jährige Yabawa dann vor einigen Wochen im Niger ausfindig machen können.

Hilfe vom Roten Kreuz

4000 Fälle betreue der Familien-Suchdienst des IKRK zurzeit, erklärt Myriem el-Khatib, die das Familien-Programm von Abuja aus koordiniert. Einige hundert Familien haben sie und ihre Mitarbeiter schon zusammenführen können, freut sie sich. Eine zentrale Rolle spiele dabei die Zusammenarbeit mit dem nigerianischen Roten Kreuz. "Deren Freiwillige kommen selbst aus den betroffenen Gemeinden und kennen sich aus. Nur mit ihrer Hilfe können wir Orte und Häuser finden und überhaupt die Umstände verstehen", betont el-Khatib. Manchmal reiche es schon, den telefonischen Kontakt herzustellen, berichtet sie. Den Rest erledigten die Familien selbst.

Myriem el-Khatib, IKRK Abuja
Manchmal gehe es den Kindern im Lager besser, erzählt el-Khatib - dann könne es sein, dass die Familie gar nicht zusammengeführt werden möchteBild: DW/T.Mösch

"Manchmal wollen die Familien aber gar nicht wiedervereinigt werden. Einigen Kindern gehe es im Flüchtlingslager besser als bei den Eltern", sagt el-Khatib. Die Kinder hätten im Lager regelmäßige Mahlzeiten und könnten zur Schule gehen - Dinge, die ihnen die Eltern derzeit oft nicht bieten könnten. "Einige Familien sagen uns ganz offen, dass sie sich nicht um die Kinder kümmern können."

Das Rote Kreuz kümmere sich auch nach der Zusammenführung um die Familien, so el-Khatib. Einige seien ja drei oder vier Jahre getrennt gewesen, da sei es nicht einfach, wieder zueinander zu finden.

Auch für Yabawa und ihre Eltern wird die Zukunft sicher nicht leicht, denn Falmata und Bukar leben noch in einem Flüchtlingslager. Ihr Heimatdorf sei noch nicht sicher, berichten sie.

Doch am Tag des Wiedersehens in Maiduguri steht erst einmal die Freude im Vordergrund. "Ich bin so glücklich!", seufzt Vater Bukar. "Ich weiß gar nicht, wie ich meine Dankbarkeit ausdrücken soll gegenüber dem Roten Kreuz und auch gegenüber den Bürgerwehren, die uns ebenfalls bei der Suche nach unserer Tochter geholfen haben."

 

Thomas Mösch
Thomas Mösch Afrika-Redakteur mit besonderem Blick auf Westafrika, Sicherheit und Ressourcenpolitik