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Politik

Auf einmal war die Angst da

Marco Müller
8. April 2018

Vor einer Gaststätte im Zentrum der 320.000-Einwohner-Stadt Münster genießen die Menschen das schöne Wetter. Dann rast ein Kleintransporter in die Menschenmenge und zerstört das Idyll. Aus Münster Marco Müller.

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Deutschland Täter von Münster ist Deutscher - kein Hinweis auf islamistisches Motiv
Bild: Getty Images/A. Koerner

Münster – eine lebenswerte Stadt in Nordrhein-Westfalen. Viele Studenten, schöne Häuser, reichlich Grün, viele Fahrräder, hohe Lebensqualität. Der erste richtig warme und sonnige Frühlingstag. Viele Menschen sind in der Stadt unterwegs. Dann geschieht, was man sonst nur in den Nachrichten hört: ein Angriff auf Unbeteiligte mitten in der Stadt. Ein Kleintransporter rast in die Menschen auf einem belebten Platz. Es gibt Tote und Verletzte. Danach ist nichts mehr wie zuvor in der schönen Studentenstadt.

Ein Polizeihubschrauber kreist über der Stadt. Die Altstadt ist weiträumig abgeriegelt. Der freundliche Polizist, der die Straße Richtung Altstadt mit seinem Motorrad absperrt, erlaubt, halb über den Bürgersteig an seinem Motorrad vorbei in die Innenstadt zu fahren. Journalisten dürfen das äußere Sperrgebiet noch befahren. Das Auto stelle ich kurz vor einer weiteren Polizeiabsperrung ins Halteverbot und frage den mit einer Maschinenpistole bewaffneten Polizisten, ob ich hier stehen bleiben kann. Seine Antwort zeigt, dass heute nichts normal ist: "Ich glaube nicht, dass sich jemand heute darum kümmert, Falschparker aufzuschreiben."

"Hier ist immer die heile Welt für alle gewesen"

An der nächsten Kreuzung hält Studentin Leonie mit ihrem Fahrrad vor der innersten Polizeiabsperrung. Hier darf niemand mehr durch: keine Journalisten, keine Anwohner. Leonie fragt die Polizisten, wie sie hier weiter kommt. Eigentlich wollte sie eine Freundin in der Bergstraße abholen. Doch alles ist abgesperrt. Auch die Polizisten können ihr nicht sagen, ob und wie sie dahin kommt. "Vielleicht klappt es auch gar nicht. Dann fahre ich wieder nach Hause." Die Tat macht sie fassungslos. "Das war für alle immer die heile Welt. Und man hat immer gesagt, wenn man aus Münster rauskommt, dann wundert man sich, was los ist. Hier ist immer heile Welt für alle gewesen." Bis zu diesem sonnigen Samstagnachmittag.

Anlaufstelle Anwohner

Auf der anderen Straßenseite stehen Männer mit Leuchtwesten vor einem Theater. Davor ein Aufsteller mit zwei handgeschriebenen Zetteln. Darauf ist zu lesen: "Anlaufstelle Anwohner." Am Abend gegen 19 Uhr wurde dieser Treffpunkt eingerichtet für Bürger, die ihre Wohnungen verlassen mussten oder einfach nur mal reden wollen. Die Betreuer erzählen, dass einige Dutzend Menschen die Anlaufstelle bisher genutzt hätten. Einige seien nervös und aufgebracht, die meisten aber sind eher ruhig und gefasst.

Münster Reaktionen nach Kleinbus Anschlag Maximilian
"Auf den Schock einen Radler": Maximilian Franke in Münster Bild: DW/M. Müller

So wirken auch Maximilian Franke und seine Freundin. Sie gehen an der Anlaufstelle vorbei. Kein Bedürfnis, dort einzukehren. Dabei haben sie die Tat unmittelbar mitbekommen. Der Student wohnt direkt gegenüber der Gaststätte. Seine Freundin und er hörten einen Knall, konnten ihn aber nicht zuordnen. Sie schauten aus dem Wohnzimmerfenster auf den Tatort. "Wir hatten erst gedacht, dass etwas explodiert ist, weil alle Sachen, Essen, Menschen auf dem Boden lagen", erzählt Maximilian Franke. "Nach und nach haben wir erst verstanden, was passiert ist." Dann haben sie mit Freunden und Verwandten über Whatsapp gecheckt, ob jemand betroffen ist. Zum Glück niemand. Da die beiden nicht mehr in die Wohnung dürfen und auch das Auto in der Sperrzone steht, sieht die Planung an diesem Samstagabend anders aus als gedacht: "In eine Bar gehen und auf den Schock einen Radler trinken."

Ein anderer Student, der seinen Namen nicht nennen möchte, kommt ebenfalls nicht mehr in seine Wohnung. Auch ihn nimmt die Tat mit: "Ich war überrascht und schockiert, weil es 50 Meter vor meiner Haustür passiert ist." Normalerweise hört man von derartigen Angriffen immer nur aus der Ferne – über die Medien. "Man denkt eher, es passiert in Riesenstädten und nicht in Studentenstädten mittlerer Größe." Jetzt hat es Münster erwischt. Der Student schwingt sich auf sein Fahrrad. Eigentlich wollte er zu Hause erst essen und dann lernen. Jetzt geht es zu einer Freundin, die außerhalb der Sperrzone wohnt.

"Heute ist der Umsatz höher als sonst"

Münster Reaktionen nach Kleinbus Anschlag Lebensmittelhändler
Lebensmittelhändler Hossein AliBild: DW/M. Müller

Zwei Kreuzungen weiter betreibt Hossein Ali einen kleinen orientalischen Lebensmittelladen. Die innerste Polizeiabsperrung ist direkt vor seinem Laden. Er brachte seine zwei kleinen Kinder gerade zum Bahnhof, als er die vielen schwerbewaffneten Polizisten bemerkte. Zunächst dachte er, es hätte vielleicht etwas mit einem Fußballspiel in der Gegend zu tun. Als er wieder im Laden war, klärte ihn seine Frau auf. Obwohl vor seinem Laden alles abgesperrt ist, war heute viel los in seinem Laden. "Heute ist der Umsatz höher als sonst", erklärt Hossein Ali. Der Grund: Viele Journalisten kaufen heute bei ihm ein.

"Ich darf nach Hause jetzt, aber ich habe Angst, richtige Angst"

Und auch in dem Fastfood-Laden, direkt an einer anderen Kontrollstelle der Polizei, scheint es gut zu laufen. Auch wenn die Straße davor wie ausgestorben ist - der Laden ist voll. Die vielen Polizisten, die zum Teil aus anderen Städten nach Münster verlegt wurden, müssen sich auch mal stärken. Am späteren Abend passiert Scholascica Orisakwe den Schnellimbiss. Sie geht nur vorbei. Hunger hat sie keinen. Vor drei Jahren ist sie aus Nigeria nach Münster gekommen, um dort eine Ausbildung zu machen. Ihr merkt man den Schock am meisten an. "Es war erschreckend. Ich war kurz zuvor zum Einkaufen in der Nähe. Ich habe gedacht: Wenn ich da gewesen wäre, was wäre passiert?" Dass sie in dem beschaulichen Münster einmal so etwas erleben würde, kann sie nicht begreifen. "Ich darf nach Hause jetzt. Aber ich habe Angst, richtig Angst, wenn ich ehrlich bin." Die sichere, heile Welt, für die Münster stand, hat Risse bekommen.

Münster Reaktionen nach Kleinbus Anschlag Nigerianerin
Vor drei Jahren nach Münster gekommen: Scholascica OrisakweBild: DW/M. Müller