Digitaler Ungehorsam
2. Juli 2013Eigentlich treffen mit diesen beiden Menschen zwei (Geistes-) Welten aufeinander: ein wertkonservativer Feuilletonist und Mitherausgeber der führenden Zeitung des deutschen Bildungsbürgertums schlechthin einerseits. Andererseits ein quer- und freidenkender Physiker mit - wie man heute sagen würde - Migrationshintergrund. Doch Frank Schirrmacher und Ranga Yogeshwar wollen an diesem Abend nicht miteinander streiten.
Und eigentlich wollen sie auf einer Veranstaltung der phil.cologne, des neuen Kölner Philosophie-Festivals, über Frank Schirrmachers Buch "Ego - Das Spiel des Lebens" sprechen. Doch dann kommt es anders, denn das, was Kritiker noch im Februar, nach dem Erscheinen des Buches, verächtlich als Science Fiction abgetan hatten, ist plötzlich Realität geworden.
Wie wir zu Marionetten im digitalen Dickicht wurden
Eine wesentliche These des Buches: Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wurde der Kapitalismus zu einem Informationsmarkt ohne Schranken. Das Ergebnis: ein gigantisches Computer-Netz, das mehr über uns weiß als wir selbst. Nicht unser Ich, unsere Lebensläufe, unser reales Handeln zählen, sondern statistische Muster, Wahrscheinlichkeitsrechnungen und Algorithmen.
Von Schirrmacher "Big Data" genannte Organisationen, wie Geheimdienste oder kommerzielle Unternehmen, sammeln unsere Daten und erschaffen ein digitales Abbild unseres Selbst, unsere Nummer Zwei, unser virtuelles Alter Ego, in dem sich unser reales Ich wie eine Marionette verstrickt.
DW: Nach dem Erscheinen Ihres Buches wurden Sie unter anderem als Verschwörungstheoretiker, als Paranoiker betitelt. Doch nun ahnt man: Es war keine Paranoia, sondern eine Analyse.
Frank Schirrmacher: Es ist doch ein Unterschied, ob Sie eine Paranoia beschreiben, oder selbst paranoid sind. Ich sage, und ich stehe damit nicht alleine, die Systeme leben von der Paranoia, von der Frage, was führt eine Person im Schilde, was verbirgt sie. Die Systeme sind paranoid. Das ist eine Beschreibung, kein Attribut, das ich mir zuschreibe.
Ranga Yogeshwar: Ich habe Franks Buch sehr genau gelesen. Es ist schon sehr billig, ihn als Verschwörungstheoretiker zu bezeichnen. Dieses Buch erschien, lange bevor PRISM bekannt wurde. Wenn wir das Buch im Kontext der Bespitzelung in globalem Maßstab betrachten, dann muss man sagen, ist das Buch eher eine Untertreibung.
Science Fiction oder Realität?
Man fühlt sich an Hollywood-Filme wie "Matrix" erinnert, in dem die Menschheit von künstlicher Intelligenz beherrscht wird. Läuft die Realität dieser Fiktion hinterher?
Yogeshwar: Wir laufen den Filmen hinterher. Das Interessante ist: Wir sehen die Filme in einem gewissen Bewusstseinszustand. Doch was wir uns nicht klar machen, ist, dass unser Bewusstseinszustand dabei ist, sich zu verändern. Die sehr tiefe Frage 'wer bin ich?' ist zunehmend geprägt von der digitalen Welt.
Schirrmacher: Das digitale Ich hat das reale Ich bereits in vielen Teilen ersetzt. Aber das reale Selbst kann das gar nicht mehr korrigieren, weil es gar nicht weiß, wie es hergestellt wird. Wissen wir, wie wir gelesen werden von Big Data-Firmen, von der NSA oder wem auch immer? Das, was wir als allererstes brauchen, ist Transparenz. Der erste Schritt. Wir müssen wissen, was sie über uns speichern.
Ist diese informationelle Selbstbestimmung, dass wir steuern, welche Informationen über uns gesammelt und gespeichert werden, mehr als nur eine Wunschvorstellung?
Schirrmacher: Was immer unterschätzt wird, ist die Macht des Rechts. Das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht haben die Unverletzbarkeit der persönlichen Sphäre zu einer Frage der Menschenwürde gemacht. Wir können doch nicht resignieren und auf einen Teil der Menschenwürde verzichten. Wir sind eine Demokratie. Wir können sehr wohl fordern, dass man uns einmal im Jahr Auskunft darüber geben muss, was über uns gesammelt, gespeichert und gelesen wird. Das ist möglich. Was Geheimdienste angeht, brauchen wir eine demokratische Kontrolle.
Europäische Alternativen zu Facebook, Google und Wikipedia
In Ihrem Buch rufen Sie dazu auf, nicht mitzuspielen, sozusagen digitalen Ungehorsam zu leisten, uns nicht von unserem digitalen Ich beherrschen zu lassen. Als ersten Schritt fordern Sie den Aufbau europäischer Suchmaschinen und mehr Datenschutz. Wieso sind wir die besseren Sachwalter digitaler Informationen, was würden wir Europäer besser machen?
Schirrmacher: Wenn wir wirklich der Meinung sind, dass Europa eine Rolle spielen soll in der Welt, dann muss es sie auch spielen, aufgrund der Tatsache, dass wir anders sind als Russland, China und die USA. Inwiefern sind wir anders? Wir haben nach schlimmen Erfahrungen kooperative Modelle entwickelt. Ich sehe natürlich Schwierigkeiten, europäische Suchmaschinen oder soziale Netzwerke zu bilden, aber wir können sie so organisieren, dass sie einer Kontrolle unterliegen, dass sie nicht kommerziell organisiert sind. Es gibt viele denkbare Strukturen. Ich kann mir vorstellen, dass eine Welt, die sich immer weiter digitalisiert, ein System vorzieht, das die Menschen nicht verrät. Und genau darum geht es: jemanden nicht zu verraten.
Yogeshwar: Wenn eine Suchmaschine wie Google hier in Deutschland beheimatet wäre und herauskäme, dass Google meine Privatdaten weiter gibt, habe ich juristisch die Möglichkeit, über eine einstweilige Verfügung den Betrieb so lange still zu legen, bis sich etwas geändert hat. In der jetzigen Situation aber tappen wir in die Falle, weil wir nicht auf US-amerikanisches Recht zugreifen können und die US-Amerikaner sich schützen, indem sie genau diese Bespitzelung außerhalb der USA zur Angelegenheit nationaler Sicherheit machen und sich damit dem Zugriff von außen entziehen.
Verantwortung übernehmen
Schirrmacher: Es handelt sich um junge Technologien. Wir lernen mit diesen zu leben, wie es die Menschen im 19. Jahrhundert mit den Maschinen gelernt haben. Wir sind eine Demokratie. Ich glaube, das Wachwerden beginnt in dem Augenblick, wenn Menschen wirklich sehen, dass sie benachteiligt werden [durch die über sie gesammelten Daten, Anm. d. Verf.]. Dabei ist Journalismus sehr wichtig, um diese Dinge auch öffentlich zu machen, also Fälle, in denen Menschen Nachteile erwachsen, wenn sie durchsichtig werden. Diese Geschichten müssen erzählt werden.
Yogeshwar: Ich glaube, Deutschland hat eine besondere Rolle. Es ist noch nicht so lange her, da hat ein Teil unseres Landes unter dem DDR-Geheimdienst, der Stasi, gelitten. Wir müssen uns klar machen, dass das Volumen der heutigen Bespitzelung ein Vielfaches von dem ist, was die Stasi wusste, und die Zugriffsmöglichkeiten sehr viel schneller sind. Es ist schon aus der historischen Verantwortung, die wir hier in Deutschland haben, ein Muss zu sagen: Das wollen wir nicht.