Der kalkulierte Regelbruch der Populisten
18. Mai 2019Der österreichische Vizekanzler Heinz-Christian Strache ist in Reaktion auf den heimlichen Mitschnitt eines Gesprächs mit der angeblichen Verwandten eines russischen Oligarchen zurückgetreten. Wie bewerten Sie diesen Schritt?
Der Skandal hat Wirkung gezeigt: Strache ist zurückgetreten. Selbstverständlich ist eine solche Reaktion allerdings nicht, denn in den letzten Jahren beobachten wir in der Politik einen Wandel der Verhaltensweisen. In der klassischen Phase der europäischen Nachkriegspolitik folgte das Verhalten nahezu aller Politiker erwartbaren informellen Regeln. Skandale, auch wenn sie strafrechtlich nicht relevant waren, hatten für die jeweils betroffene Person in aller Regel negative Konsequenzen - sei es mit Blick auf die Reputation, sei es mit Blick auf das Wahlergebnis. Die Personen traten entweder zurück oder sie saßen es aus, wenn auch mit erheblichen Blessuren. Auf jeden Fall wurden sie abgestraft. Das hat sich inzwischen allerdings radikal verändert.
Inwiefern?
Der Aufstieg der Rechtspopulisten in Europa und in den USA hat neue Maßstäbe gesetzt. Besonders deutlich zeigt sich das bei Donald Trump: Er hat eine ganze Reihe von Skandalen überstanden, weil er sich nicht an diese informellen Regeln hält. Er weigert sich nicht nur, zurückzutreten - er weiß auch, dass diese Weigerung sein Ansehen bei seiner Anhängerschaft stärkt. Er kann seine Haltung kommunikativ verwerten, indem er sich als jemanden inszeniert, der dem System, das sich gegen ihn und gegen das Volk verschworen habe, widersteht. Das ist ein Regelbruch, und diesen scheuen viele Rechtspopulisten zumindest tendenziell nicht. In Österreich hat es sich allerdings anders zugetragen: Offenbar waren die Politiker der FPÖ, an ihrer Spitze Strache, nicht zynisch genug für den Versuch, den Skandal zu ihren Gunsten zu nutzen.
Was sagt dieser Regelbruch über die politische Kultur der Gegenwart?
Die Rechtspopulisten verschieben den Rahmen dessen, was nicht akzeptabel ist. Die große Frage ist, ob die etablierten Parteien, die sich bislang an die klassischen informellen Spielregeln hielten, den Zynismus ihrer populistischen Konkurrenten übernehmen oder nicht. Täten sie das, hätte das verheerende Konsequenzen für die demokratischen Werte. Das würde zu einem schleichenden Prozess ihrer Zersetzung führen.
Eigentlich sollte man erwarten, dass sich den Fakten auch mit Zynismus nicht beikommen lässt. Ihrer Evidenz müssten sich doch auch sehr hartgesottene Politiker beugen.
Man muss unterscheiden: Es gibt Fakten und Argumente. Beide kann man manipulieren. Häufiger als Fakten werden Argumente manipuliert. So könnte ein Politiker zum Beispiel behaupten, die Einführung einer Europasteuer führe zu mehr sozialer Gerechtigkeit. Argumente dieser Art lassen sich für viele Menschen nicht leicht überprüfen - und oft sind sich nicht einmal die Politiker selber sicher, ob sie zutreffen. Insofern lassen sie sich auch missbrauchen. Das heißt: Wenn die Bürger zu der Einschätzung kommen, Politiker setzten auf nicht plausible Argumente, schwindet ihr Vertrauen in den politischen Prozess. In anderen Worten: Selbst der leichtfertige Umgang mit Argumenten hat negative Konsequenzen für die Demokratie. Politiker können die politische Kultur also bereits mit viel weniger als bloßen Lügen zersetzen.
Unterscheiden sich die Wähler hinsichtlich ihrer Empfindlichkeit gegenüber solcher Manöver?
Auffallend ist eines: Politisch weniger interessierte Bürger reagieren auf fragwürdige Argumente oft sensibler als solche, die ein größeres Interesse an Politik haben. Der Grund dafür liegt in der politischen Bindung: Politisch interessierte Personen haben oft eine hohe Parteibindung. Sie identifizieren sich mit einer Partei. Darum neigen sie dazu, Argumente von Politikern dieser Partei auch dann zu akzeptieren, wenn sie dürftig oder fragwürdig erscheinen. Sie haben zwar das unbestimmte Gefühl, sie seien nicht ganz schlüssig. Aber sie reden sich deren Plausibilität ein, weil sie sich mit der Partei des Politikers identifizieren. Insofern lehrt uns das auch etwas über die Funktionsweise von populistischer Rhetorik.
Das Interview führte Kersten Knipp.
Konstantin Vössing ist Professor an der City University London. Eines seiner Schwerpunktthemen sind Mechanismen politischer Mobilisierung sowie die Herausbildung Zustandekommen politischer Präferenzen.