Boom-Land Vietnam
11. Januar 2007Die Handys, der Verkehr, die Neubauten mit den Glitzerfassaden: Hanoi sieht auf den ersten Blick aus, wie asiatische Boomstädte eben aussehen. Es gibt weniger Autos als in China, die Hochhäuser sind niedriger - und die Menschen im Schnitt jünger. Vietnam hat eine der jüngsten Bevölkerungen Asiens. Doch viele der 84 Millionen Vietnamesen wissen noch, wie schwer es noch in den frühen 1980er Jahren war, auch nur Reis zu bekommen. Die ersten Wirtschaftsreformen Doi Moi beendeten 1986 die bleierne Zeit seit dem Kriegsende - elf Jahre, in denen das weitgehend isolierte, vom Krieg zerschlagene Land knapp am Hunger existierte. Eine Zeit, die älteren Vietnamesen heute fast genauso schrecklich in Erinnerung ist, wie der Krieg selbst - und für die Jungen scheint sie genauso weit weg.
Nach jahrelangem Feilschen um Zölle, Subventionen und Investitionsbarrieren und über 40 bilateralen Handelsabkommen wird Vietnam am 11. Januar als 150. Mitglied in die Welthandelsgemeinschaft WTO aufgenommen. Die Medien, nach wie vor fest in der Hand der Partei, trommeln permanent für den Beitritt. Der WTO-Beitritt werde, so die Parole, die boomende Wirtschaft auf ein noch höheres Niveau heben.
Für die Vietnamesen ist der WTO-Beitritt nicht zuletzt eine Frage des Nationalstolzes - endlich will man dazu gehören. Eine Meinung dazu hat jeder. Von der selbstbewussten, gut ausgebildeten städtischen Jugend gibt es keine Bedenken zu hören. Sie haben bisher nur Aufschwung erlebt. "Warum sollte sich das ändern? Das wird ein Riesenschritt für unser Land", glaubt eine Wirtschaftstudentin aus Hanoi, die ihren Namen mit Ngoe angibt. Wie ihre Freundin Linh hofft sie auf einen Job in einer ausländischen Firma: "Die bezahlen besser."
Die beiden Revolutionen
Die alleinherrschende kommunistische Partei Vietnams hat das Ziel ausgegeben, bis 2010 zu den Schwellenländern und zehn Jahre später zu den Industrienationen aufzuschließen. Experten halten das für möglich. Seit 1990 wuchs Vietnams Wirtschaft im Schnitt um sieben, 2005 sogar um 8,4 Prozent - die zweithöchste Wachstumsquote Asiens hinter China. Die Exporte Vietnams steigen sogar schneller als beim großen Nachbarn: Schrimps und Schuhe, Kaffee und Textilien, Schiffe und Pfeffer, Reis und Möbel – überall gehört Vietnam zur Weltspitze. Und im Gegensatz zu den Konkurrenten profitiert Vietnam von steigenden Ölpreisen: Vietnam ist der einzige Ölexporteur Südostasiens.
Noch gehört Vietnam mit einem Bruttoinlandsprodukt von 700 Dollar pro Kopf zu den armen Entwicklungsländern, doch die Armen-Quote schrumpft so schnell wie die Wirtschaft wächst. Vor zwanzig Jahren galten zwei Drittel als arm, 2005 war es nur noch jeder Fünfte – ein einzigartiger Erfolg. Ein Leben mit Moped, Handy und Kühlschrank ist für die Mehrzahl der Vietnamesen in Reichweite - der entscheidende Grund, warum es kaum nennenswerte Opposition gegen die kommunistische Alleinherrschaft gibt.
Vietnam wird in Wirtschaftskreisen eingeschätzt wie Indien vor fünf und China vor zehn Jahren. Junge, motivierte Arbeitskräfte, niedrige Löhne, kein religiöser Extremismus und politische Stabilität: Vietnam hat, was Investoren wünschen. Den naheliegenden Vergleich mit China sieht man in Vietnam selbst ambivalent: Natürlich ist China Vorbild, von dem man lernen will. Der mächtige Nachbar im Norden ist aber auch tief suspekt: Schon historisch, als Gegner in dutzenden Unabhängigkeitskriegen. Heute glauben viele Vietnamesen, dass China auf die dringend benötigten Bodenschätze Vietnams schielt, namentlich auf die Öl- und Bauxitvorkommen. China ist vor allem aber der Konkurrent, neben dem es auf dem globalen Markt zu bestehen gilt: Bei Schuhen, Kleidung, Nahrungsmitteln, Möbeln, inzwischen sogar Elektronik. Beide locken mit niedrigen Kosten – und die Löhne sind in Vietnam nochmals um 20 Prozent niedriger.
Doch nicht nur System und Boom, auch die Probleme Vietnams sind durchaus mit denen Chinas vergleichbar: Auch Vietnam leidet massiv unter Korruption, vom einfachen Polizeibeamten bis in die Ministerien. Deutlich wie nie wurde dies Anfang 2006, als Spitzenbeamte des Transportministeriums aufflogen, die Millionen Euro mit Fußballwetten verzockt hatten. Über das Problem wird inzwischen verhältnismäßig offen diskutiert. Im Juni 2006 wurde auf dem Parteitag der Kommunistischen Partei mit Nguyen Minh Triet ein bewährter Korruptionsbekämpfer zum Präsidenten gewählt.
Doch Korruption ist nur eines der Probleme, die auf dem Weg zur Wettbewerbsfähigkeit überwunden werden müssen. Der Bankensektor und das Rechtssystem gelten als dringend reformbedürftig, in die Infrastruktur muss massiv investiert werden. Die Partei treibt mächtig an, aber es braucht Zeit, bis die marode Eisenbahn modernisiert, das Straßennetz ausgebaut, die Häfen auf modernem Stand sind. Mehr Sorgen machen Beobachtern die unrentablen Staatsbetriebe. Wenn die politischen Kredite der Staatsbanken wegfallen, wird es etwa bei Post und Telekommunikation unweigerlich zu Entlassungswellen kommen. Staatsangestellte zählen zu den wahrscheinlichen Verlierern des WTO-Beitritts – vor allem aber Kleinbauern.
Die kommende Revolution
Noch immer leben zwei Drittel der Vietnamesen auf dem Land. Der wirtschaftliche Aufschwung beflügelte überproportional die Städte, der kleinbäuerlich geprägten Landwirtschaft droht der Importschock. Eine der wenigen Details, die aus den bilateralen Verhandlungen durchgesickert sind, besagen, dass sich beispielsweise Australien garantieren ließ, sein überschüssiges Rindfleisch nach Vietnam exportieren zu können. Die Konsequenzen für die vietnamesischen Bauern sind absehbar – weder bei Preis noch Qualität werden die vergleichsweise unproduktiven Kleinbauern mithalten können. "Viele wissen nicht, was auf sie zukommt", sagt ein Bauernvertreter in Hung Yen, etwa 60 Kilometer von Hanoi. "Für viele wird es eine harte Zeit." Hilfs- und Entwicklungsorganisationen wie Oxfam warnen, dass die Erfolge der Armutsbekämpfung in ländlichen Gebieten wieder gefährdet sein könnten. Als ausgemacht gilt schon jetzt, dass die sich bisher in Grenzen haltende Landflucht sprunghaft zunehmen wird – mit den entsprechenden Folgen für die schon heute wild wuchernden Metropolen Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt.