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GesellschaftDeutschland

40. Wie geht eigentlich Autismus?

25. Februar 2022

Für Menschen, die unseren Podcast nicht hören können, stellen wir hier ein Transkript zur Verfügung: Störung, Behinderung oder einfach eine andere Art der Wahrnehmung? Was ist Autismus eigentlich?

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Zum Podcast geht es hier

Moderator, Matthias Klaus: Herzlich willkommen zu "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus.

"Autistische Menschen haben keine emotionalen Bindungen, sie haben Probleme mit dem Kommunizieren, sie können keinen Augenkontakt halten, sie sprechen wenig oder gar nicht. Sie zeigen merkwürdige, wiederholende Verhaltensweisen. Sie leben am liebsten zurückgezogen. Sie arbeiten alle in der IT und sie sind eigentlich krank." So stellt man sich das vielleicht vor. Doch wie ist das wirklich? Heute in "Echt behindert?" geht es um die Frage: "Wie geht eigentlich Autismus?" Mit mir im Podcast ist Ulrike, genannt Ricky Zehrer. 

Matthias Klaus: Schönen guten Tag.

Ricky Zehrer: Guten Tag.

Matthias Klaus: Sie bezeichnen sich selbst als Autist. So habe ich Sie auch gefunden. Was ist Autismus für Sie? Lässt sich das in Worte fassen? 

Ricky Zehrer: Was ist Autismus für mich oder was ist Autismus nach der Definition?

Matthias Klaus: Gerne beides. Erst mal meinetwegen Autismus als Definition und dann auch für Sie.

Ricky Zehrer: Autismus ist definiert als eine sogenannte tiefgreifende Entwicklungsstörung. Das heißt, irgendwas in der Entwicklung ist tiefgreifend gestört. Gestört ist immer so ein unschönes Wort.

Matthias Klaus: Da reden wir ja noch drüber...

Ricky Zehrer: E ist anders: Autismus ist angeboren. Das Gehirn funktioniert etwas anders als bei nicht-Autisten. Autismus ist aus meiner Sicht für mich in allererster Linie eine Wahrnehmungs- und Filtersache, eine Störung - ich sage auch jetzt wieder "Störung", obwohl das das eher ein unschönes Wort ist.

Der Input der beim nicht-Autisten, bei den meisten nicht-Autisten vom Gehirn noch mal vorgefiltert wird, bevor der verarbeitet wird, sodass nicht alles was sensorisch  aufgenommen wird in gleicher Weise reinkommt, wird bei Autisten nicht vor gefiltert. 

So bekomme ich quasi alles, was ich sehe, fühle und so weiter unverdünnt hingeworfen. Und damit muss ich dann irgendwas anfangen. Das führt dann zu bestimmten Ausgleichs-, Kompensationsmechanismen und zu weiteren Symptomen, die durch den ständigen Stress ausgelöst werden, weil das Gehirn eigentlich nicht darauf ausgelegt ist, ständig so viel zu verarbeiten. Und das sind dann die Dinge, die man als "Autismus-Ausprägungen" kennt, was man sie von außen sieht beim Autisten.

Matthias Klaus: Wenn Sie jetzt viel wahrnehmen und eventuell ist das zu viel für Sie, haben Sie da irgendwelche Strategien, was Sie dann tun können? Wenn sie merken: "Oh, das wird mir jetzt aber zu viel hier."

Ricky Zehrer: Erster Punkt ist immer, wenn es irgendwie geht: aus der Situation raus! Das was zu viel wird zu stoppen. Ich gehe nur mit Sonnenbrille raus. Also künstliche Filter einbauen, zum Beispiel Blendschutzscheiben im Auto. Wer auf akustischen Input überlädt, [muss sich vor Geräuschen schützen]. Es ist jetzt bei mir zum Beispiel [nicht] so. Ich nehme zwar alles wahr, was ich höre, aber ich überlade deswegen nicht. Das ist bei jedem wieder anders.

Manchen Tun Geräusche ganz besonders schlecht. Bei mir geht das rechts rein und links raus, was aber deswegen nicht heißt, dass ich mich in einem lauten Raum unterhalten könnte, weil ich trotzdem alles gleich laut höre. Das heißt, ich kann nicht ohne große Anstrengung die Stimme des Gegenübers aus Hintergrundgeräuschen rausfiltern.

Jemand der akustisch überlädt, würde jetzt zum Beispiel sinnvollerweise Noise Cancelling Headphones verwenden - also Ohrstecker oder Kopfhörer, die spezielle Frequenzen oder spezielle Töne herausfiltern. Wenn es wirklich so ist, dass ich in einer Situation bin, aus der ich nicht rauskomme, und ich weiß, es kommt an die Stelle, wo ich überlade, dann nutze ich diese bekannte Methode des Stimmings.

Stimming ist kurz für selbststimulierendes Verhalten. Im Endeffekt geht es dabei darum, dass man einen störenden, überladenden Reiz überdeckt mit einem kontrollierten Reiz. 

Matthias Klaus: Sind das diese merkwürdigen, wiederholenden Verhaltensweisen, von denen ich anfangs so gesprochen habe?

Ricky Zehrer: Der nicht-Autist kann sich das vorstellen. Ich sage das Stimming ist etwas, das begreift jeder, auch ein nicht Autist. Nur ein nicht-Autist kommt in die Situation nur in ganz speziellen Momenten.

Für jeden nachvollziehbar ist es, wenn es irgendwo juckt. Jucken ist ein unkontrollierter, extrem unangenehmer Reiz. Dann überdeckt er den mit Schmerz. Kratzen ist Schmerz. Das heißt: Über den unkontrollierten, unangenehmen Reiz kommt ein kontrollierter, selbstausgelöster, besser zu ertragender Reiz und versteckt damit diesen unangenehm Reiz.

Matthias Klaus: Erzählen Sie mir, was Sie da machen oder ist es zu intim?

Ricky Zehrer: Einmal fest innen auf die Wange beißen. Schmerz ist ein wahnsinnig guter Reiz zum Überdecken, weil der Körper einfach darauf ausgelegt ist, den bevorzugt wahrzunehmen, weil er ein Warnsignal ist. Die meisten erwachsenen Autisten, die ich kenne, haben ein unauffälliges Schmerz-Stimming: Fingernägel ineinander schieben, kneifen, sich selbst auf die Wange beißen, solche Sachen. 

Das fällt nicht auf, wenn man unterwegs ist, und man kann sich trotzdem selber mal kurz aus der Situation rausholen. wenn ich zu Hause allein bin, kann es durchaus auch passieren, dass ich da sitze und ganz klischeemäßig auf meinem Stuhl hin und her schaukele. Das würde ich in Gesellschaft nicht machen, weil es in dem Moment zu Fragen führt, die ich in dem Moment nicht beantworten kann, weil die Interaktion wieder mehr Reiz wäre, der wiederum zusätzliche Belastung darstellen würde.

Das heißt, es geht mir weniger darum, nicht aufzufallen. Es geht mir persönlich darum, dass ich in dem Moment nicht darüber auch noch in Interaktion treten könnte.

Matthias Klaus: Jetzt allen Autismus Klischees zum Trotz. Sie gehen ja raus unter die Menschen und haben jetzt nicht so etwas wie: "Ich möchte gar nicht unter Menschen sein", das soll es ja auch geben. 

Ricky Zehrer: Ich kontrolliere die Menge, in der ich der unkontrollierten Welt ausgesetzt bin, sehr stark. Ich habe den Vorteil, dass ich mein eigenes Haus habe, das ich selbst renoviert habe, und an meine Bedürfnisse angepasst habe.

Ich hab bei mir zu Hause einen extrem geringen Stress. Ich beschreibe das gerne für nicht-Autisten mit einem Waschbecken: Jeder Reiz, der reinkommt, ist ein bisschen Wasser, das hineingekippt wird. Das kann ein Fingerhut voll sein. Das kann eine Tasse sein. Das kann ein Eimer sein.

Wenn ich mir vorstelle, dass bei einem nicht-Autisten der Durchlauf durch den Abfluss normal ist, da kann ich eine Menge reinkippen. Das läuft alles ab.

Beim Autisten ist dieser Abfluss hingegen zu, verstopft. Alles läuft langsamer ab. So ist das mit diesem Reizpegel, diesem Stresspegel, der immer weiter ansteigt und langsam absinken muss.

Und das heißt: Je niedriger mein Reizpegel ist, wenn ich rausgehe, desto länger und desto mehr kann ich draußen aushalten. Ich gehe gern raus, wenn es Abend wird oder sehr früh, wenn nicht viel los ist.

Ich kann auch anders: Ich habe einen Zweitjob, bei dem ich auf Großveranstaltungen muss. Das bedeutet für mich aber, dass ich die Woche vorher und nachher nicht aus dem Haus gehe.

Matthias Klaus: Was für Jobs haben Sie denn? 

Ricky Zehrer: Ich bin hauptberuflich Übersetzer, habe mein eigenes Unternehmen und ich arbeite nebenbei schon ganz lange auf Großveranstaltungen, auf sogenannten Conventions in der Gästebetreuung. Wir sind quasi die Babysitter für Schauspieler. Das ist auf den ersten Blick nicht wirklich mit Autismus kompatibel.

Matthias Klaus: Ich hätte beinahe gefragt. Ja...

Ricky Zehrer: [Ricky lacht] Also ich muss ganz ehrlich sagen: Ich mache das am Anfang natürlich in anderer Form. Aber in der einen oder anderen Form mache ich das, seit ich 16 Jahre alt bin. Und ich hätte Ihnen bis vor zwei Jahren nicht sagen können, weshalb ich das mache. Erst durch die erzwungene Corona-Pause habe ich überhaupt registriert, weshalb es für mich trotzdem nicht positiv ist. Es ist ein wahnsinniger Stress.

Das heißt, ich muss vorher schauen, dass mein Stresspegel so tief wie möglich ist. Und anschließend brauche ich meine Zeit, um runterzukommen. Aber es ist trotzdem ein Job, von dem ich nicht loskomme. Es ist im Endeffekt ist es für mich so: Dadurch, dass ich mich da zwei, drei Tage lang komplett auf eine andere Person konzentrieren muss und überhaupt nicht an mich selbst denken kann, habe ich einen anderen Zugang zu meinen eigenen Situationen und zu meinen eigenen Problemen. Da kann ich quasi mit einem frischen Blick an mein eigenes Leben herangehen.

Matthias Klaus: Kommen wir mal zurück zum Thema Autismus selbst, also die Wissenschaft spricht von der "Autismus-Spektrum-Störung". Da stellt sich die Frage: "Was ist ein Autismus-Spektrum?"

Ricky Zehrer: Der Begriff bezieht sich darauf, dass die Ausprägung, die spezielle Ausprägung von Person zu Person verschieden ist. Spektrum stellen sich viele Leute ein bisschen falsch vor, nämlich als Verlauf von schwach zu stark. So ist es nicht. Genauso wie wenn ich mir ein Farbspektrum vorstelle mit "blau an einem Ende und rot am anderen". Deswegen ist aber rot nicht blauer als blau und blau nicht rot und blau ist nicht mehr eine Farbe als rot oder umgekehrt. Genauso kann ich nicht sagen: "Ich bin..."

Man hört es oft: "Der ist tief im Spektrum oder nicht so tief im Spektrum." So ist es nicht. Es ist nur so, dass die ganzen einzelnen Punkte von Person zu Person unterschiedlich ausgeprägt sind. Wenn ich vorhin gesagt habe: "Ich überlade auf akustischen Input nicht" [dann trifft das nur auf mich zu]. Andere Autisten können Geräusche ganz schwer aushalten.

Ich habe extrem verzögertes Schmerzempfinden, jemand anders empfindet Schmerzen vielleicht viel stärker als ein nicht-Autist. Ich bin extrem lichtempfindlich, jemand anders kann sich problemlos in den Scheinwerfer stellen. Wenn ich sage, im zwischenmenschlichen: Manche können Augenkontakt überhaupt nicht [aushalten]. Manche können es so ein bisschen. Manche starren den anderen an. Manche sind sehr stark auf das Gegenüber eingestellt, nehmen sehr viel wahr - zu viel wahr. Andere haben instinktiv erst mal überhaupt keinen Zugang zum Gegenüber.

Es ist immer irgendwas anders als bei einem nicht-Autisten. Aber die genaue Ausprägung ist unterschiedlich. Es ist aber immer jeder Punkt betroffen. Es ist nicht so, dass ich sage: "Ich bin jetzt...", "Ich reagiere empfindlich auf Geräusche, also bin ich auch ein bisschen autistisch." So ist es nicht. Es muss schon aus jedem Bereich was vorliegen.

Ich erzähle normal. [da sagen dann manche:] "Du bist aber nicht sehr autistisch!" Ja, nee! Es ist auch immer eine Frage dessen: Wie viel Aufwand muss ich denn treiben, um "nicht so autistisch" zu sein? Also das kann der Außenstehende überhaupt nicht beurteilen.

Matthias Klaus: Die Sache mit dem Augenkontakt: Sie haben gerade gesagt Augenkontakt, das wird ja immer so als Klischee angeführt: Der Autist, die Autistin kann keine Menschen anschauen. Erst mal: Ist es jetzt wirklich oft so? Oder ist es nur manchmal so? Ist das bei Ihnen so? Haben Sie damit ein Problem oder ist Ihnen das egal?

Ich frage das auch deswegen, weil ich ja blind bin. Ich habe auch keinen Augenkontakt, noch nie gehabt zu irgendjemandem. Mir wäre das jetzt als Thema einfach nicht so wichtig, aber das ist vielen Menschen extrem wichtig.

Ricky Zehrer: Ich habe eine blinde Freundin. Eine der absolut angenehmsten Sachen ist, ich muss sie nicht angucken und sie guck mich nicht an. Das ist für mich tatsächlich ein Problem, weil weniger noch der Augenkontakt als solcher [auf mich einwirkt]. Diese ganze Partie im Gesicht bewegt sich ständig. Und dadurch, dass mir mein Hirn ja alles ungefiltert hinwirft, sehe ich jede dieser Bewegungen, jedes Zucken, jedes Blinzeln. Da ist zu viel los. Da kann ich mich auf nichts anderes mehr konzentrieren und auch nicht dem  Gespräch folgen.

Das ist, als ob einem ständig jemand mit dem Finger in die Seite stupst: "Du, guck! Guck! Guck! Guck! Guck!" Da kann ich kein Gespräch führen und ich kann mich nicht auf das konzentrieren, was der andere sagt, weil das Optische ständig ablenkt.

Matthias Klaus: Also es ist schon so etwas, was auch auftritt.

Ricky Zehrer: Ja, ja. Es heißt zwar immer: "Schau mir in die Augen, schau mir ins Gesicht." Es ist aber erfahrungsgemäß so, dass ein nicht dafür ausgebildeter Mensch nicht erkennen kann, ob man ihm ins Gesicht schaut, ob man dran vorbei guckt, ob man aufs Kinn schaut oder vielleicht noch ein bisschen unauffällig auf den Ausschnitt, auf die Stirn. Da bewegt sich relativ wenig. Das merkt kein Mensch. Was die merken ist, wenn man entweder den Kopf weg dreht oder die Augenlider senkt und nach unten guckt.

Matthias Klaus: Es gibt schon so Konformitätsvortäuschungsstrategien, damit man nicht jedes Mal drüber reden muss.

Ricky Zehrer: Ja, in meinem Fall würde ich eher auch ein bisschen vortäuschen, damit ich nicht jedes Mal drüber reden muss und auch aus Effizienzgründen. Es ist einfach oft effizienter, man ist schneller am Ziel. Bei vielen ist es aber auch der anerzogene Zwang, was einfach von Kindheit auf erzwungen wurde. Und das ist dann wieder weniger gesund.

Matthias Klaus: Es gibt ja auch Therapien, die einem Verhalten abgewöhnen wollen und solche Sachen... Aber erstmal noch mal zurück zur Autismus-Spektrum-Störung. Da ist ja dieses Wort "Störung" drin, was die Mediziner vielleicht gerne verwenden. Würden Sie sagen, das ist eine Störung, was sie da haben?

Ricky Zehrer: Es ist anders: Ich empfinde es deswegen nicht als Störung, weil ich meine, wir haben eigentlich mehr. Ich weiß, ich nehme mehr wahr. Ich sehe Details, die andere nicht sehen, was mir eben auch in beiden Berufen massiv zugutekommt. Dieses periphere Blickfeld, in dem man normalerweise weniger wahrnimmt, das habe ich nicht. Ich sehe, was ich sehe. Auch das was von der Seite kommt sehe ich sofort. Ich habe das sofort präsent.

Insofern empfinde ich es nicht als Störung. Ich empfinde es eher als mehr. Es ist aber schon so, dass es aufgrund dieses mehr einschränkt. Ich kann nachvollziehen, warum es andere Leute durchaus als Störung empfinden. Es ist halt allgemein der Standard, dass man alles, was von der festgelegten Norm abweicht, medizinisch erst mal als Störung bezeichnet.

Matthias Klaus: da kommen wir direkt zur Norm. "Neurotypisch" ist ja so ein Wort für ich nehme mal an "die Norm." Man unterscheidet also zwischen neurotypisch und autistisch. Ist das sinnvoll Ihrer Meinung nach?

Ricky Zehrer: Man unterscheidet eigentlich neurotypisch und neurodivers. Unter neurodivers fällt nicht nur autistisch, sondern auch alles Mögliche andere. Da fällt also mehr rein als nur Autismus. Ich halte die Unterscheidung schon für sinnvoll, weil jemand, der nicht neurotypisch ist, in vielen für neurotypische Gehirne gemachten Umgebungen deutlich mehr Energie aufwenden muss, um die gleiche Leistung in Funktion zu bringen, wie jemand mit neurotypischem Gehirn (sofern das überhaupt möglich ist). Und der Ausgleich dafür, der darf und soll auch sein. Und dann brauche ich auch eine Bezeichnung dafür. Und irgendwie muss ich das definieren können.

Matthias Klaus: Sie haben mir vorher erzählt, im Vorgespräch, dass Sie aus einer autistischen oder teilweise autistischen Familie stammen. Wie verhält sich das bei Ihnen und ist es überhaupt wichtig für Sie?

Ricky Zehrer: Es ist für mich und für mein Leben sehr wichtig dadurch, dass ich es bis in die Generation meiner Großeltern in erster Linie aus familiären Anekdoten erschließen konnte. Dass es einfach bei uns schon sehr lange in der Familie ist und als Familienkultur durchaus gepflegt und kultiviert wird.

Es ist so, dass ich von klein auf nicht mit dem Gefühl aufgewachsen bin, dass ich falsch bin, sondern "bei uns ist das halt so." Das macht schon mal einen großen Unterschied, einfach auch im Selbstvertrauen. Mir ist nie dieses Anpassen anerzogen worden. Ich habe mir vieles aus dem Bereich "Masking", also das Vorgeben eines neurotypischen Verhaltens, erst ab dem späteren Teenageralter und dann an der Uni angeeignet, und zwar nach meiner eigenen Wahl.

Also bei mir war eben viel wirklich: "Ist es effizienter? Ich komme schneller zum Ziel, wenn ich das so und so mache, wie der andere das erwartet. Gut, dann mache ich das so, wenn ich in der Situation bin." Aber, dieses ewige Drängen und Erzwingen durch die Eltern, das kannte ich nicht. Und, dieses erzwungene normal sein - sei es, das man nicht jeden Tag die gleichen Kleidungsstücke anziehen kann (Ich rede nicht von denselben, sondern von den gleichen. Also ich habe bis heute, ich habe fünfmal die gleiche Jeans und zehnmal das gleiche T-Shirt und das gibt an jedem Tag die gleichen Reize, die besser auszuhalten sind. Damit ich mich eben nicht jeden Tag aufs Neue auf viele Reize einstellen muss). So was wurde bei uns einfach von klein auf akzeptiert.

Oder dass nur eingeschränkt gegessen wird, dass bestimmte Texturen nicht gehen, dass bestimmte Geschmackskombinationen nicht gehen. Das war bei uns einfach ganz normal und dann eben auch alleine die Tatsache, dass wir Erwachsene Vorbilder haben, die das nachvollziehen konnten und die einem auch mal erklären konnten: "Ja, pass auf, du musst es so machen, dann geht das besser." Das macht einen wahnsinnigen Unterschied.

Matthias Klaus: Ja, das glaube ich wohl. Die Medizin redet oft von Therapie und Heilung. Sie als jemand, der mir nicht den Eindruck macht, als seien Sie jetzt so extrem unglücklich mit Ihrer Situation, würden Sie sagen: "Man soll da etwas heilen, man kann da etwas heilen oder therapieren"? Oder ist das kompletter Blödsinn?

Ricky Zehrer: Es ist von einem "können"-Punkt aus kompletter Blödsinn. Das Gehirn ist anders verkabelt. Das ändert sich auch nicht. Man kann nur lernen, es zu überspielen, zu überdecken. Das ist ein Stressfaktor. Der führt zu weiteren Folgen.

Ich denke, es weiß jeder heute, dass es zum Burnout kommt wenn man ständig unter mehr Stress ist als man eigentlich aushält. Es kommt zu anderen Folgen. Wir wissen alle, dass es Spätfolgen hat, wenn ein Kind in einer Familie aufwächst, wo dem ständig vermittelt wird: "Es ist falsch, es muss sich ändern, es passt nicht." 

Wir haben das Problem mit den sogenannten "Meltdowns", die entstehen, wenn der Stresspegel gar zu weit steigt.

Matthias Klaus: Können Sie das erklären, was ein "Meltdown" ist?

Ricky Zehrer: Jeder Reiz, der reinkommt, erhöht ein bisschen meinen Stresspegel. Irgendwann ist dieser Stresspegel auf einem Level, den ein nicht-Autist eigentlich nur in Extremsituationen erreicht: Soldaten unter Beschuss, Folter, extremer Missbrauch, alles was eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) auslösen kann. Es gibt einen wahnsinnig hohen Anteil an erwachsenen Autisten, die mit einer posttraumatischen Belastungsstörung leben.

Das entsteht einfach aus diesem überschießenden Stress im Meltdown. Das Gehirn und der Körper sind erstmal der Meinung, man würde sich in einer akut lebensbedrohlichen Situation befinden und übernehmen [die Kontrolle der lebenserhaltenden Funktionen].

Man hat keine bewusste Kontrolle mehr über das, was man macht. Man hat oft anschließend nur bedingte Erinnerungen daran. Es ist ein Stresspegel, in dem das Gehirn keine guten Erinnerungen mehr baut. Es ist eine absolut fürchterliche Situation, die man eigentlich um alles in der Welt nicht nochmal erleben möchte.

Je nach Persönlichkeit kann es zu unterschiedlichen Situationen kommen. Es gibt Leute, die um sich schlagen, versuchen möglichst alles abzuwehren. Es gibt Leute, die brüllen, schreien den anderen an. Es gibt Leute, die stellen sich quasi tot: Die machen komplett zu, reagieren auf gar nichts mehr.

Es ist immer der Versuch des Gehirns ohne bewussten Einfluss dieser empfundenen Bedrohungssituation zu entgehen. Und wenn ich mich als Autist eben ständig diesem "zu viel" aussetze, weil ich versuche, so zu tun, als sei ich keiner, dann kommt es zu dieser Situation relativ häufig

Matthias Klaus: Passiert Ihnen das schon mal?

Ricky Zehrer: Mir ist das das letzte Mal vor circa 12, 13 Jahren passiert. Ich bin zweimal knapp davor gewesen und konnte es  jedes Mal vorher abbrechen, mich der Situation entziehen. Einmal auch durchaus auf Kosten einer freundschaftlichen Beziehung, die danach nicht mehr existierte. Es war aber unterm Strich definitiv die richtige Entscheidung.

Wie gesagt, ich habe die Möglichkeit, extrem angepasst an meine autistischen Eigenschaften zu leben. Die Möglichkeit hat kaum jemand. Und es ist auch, das muss ich leider sagen, so blöd es klingt, eine Geldfrage. Man muss es sich leisten können. 

Matthias Klaus: Man kann im Internet, in Autismus Blogs und ähnlichem auch schon mal lesen: "Ach, diese neurotypischen, die können vor lauter Emotionen nicht klar kommunizieren." Würden Sie sagen, Ihr Autismus hat für Sie auch Vorteile?

Ricky Zehrer: ich würde zu dem Satz gerne kurz was sagen, weil: Ja, man liest das! Und: Ja, es gibt die!

Matthias Klaus: Es klingt erstmal lustig, so denkt man: "Ah ja, okay, Selbstermächtigung und so weiter. Schön!"

Ricky Zehrer: Was mir daran nicht so gefällt, ist, dass das wieder das Klischee vom emotionsarmen Autisten propagiert. Und es ist tatsächlich schon so, dass bei vielen Autisten nicht zu wenig, sondern eher zu viel eigenes Gefühl da ist. Und ja, man kann dann versuchen, sich davon zu distanzieren, um das nicht durchzulassen.

Aber auch ein Gefühl ist ein Reiz und auch das ist unter Umständen einfach viel zu viel, teilweise auch viel zu viel, um das überhaupt selbst zu benennen. Die Situation, dass Autisten selbst gar nicht so genau wissen, wie sie sich eigentlich gerade fühlen, was sie eigentlich gerade für ein Gefühl haben, weil zu viel durcheinander ist, weil man das alles erst mal auseinander sortieren müsste, dazu aber überhaupt keine Zeit ist, man auch nie die Gelegenheit hatte, das zu lernen, weil man viel zu viel damit beschäftigt war zu lernen, sich zu benehmen, als wäre man kein Autist. Das ist ein durchaus bekanntes und auch durchaus verbreitetes Problem.

Hat es für mich Vorteile? Ja, natürlich hat es für mich Vorteile. Ich habe es eben schon angesprochen, ich nehme wesentlich mehr Details wahr. Eine Sache ist der sogenannte Hyper-Focus, das punktuelle Konzentrieren auf eine Sache, auf eine Tätigkeit. Unter Ausschluss alles anderen kommt in dieser Situation dann wirklich nichts mehr durch ans Hirn, nichts!

Das heißt allerdings auch kein Durst, kein Hungergefühl. Man stellt sich dann am besten auch das Handy [den Wecker], das man zwischendurch mal aufs Klo wollte. Aber in diesem Hyper-Focus Zustand kann ich zum Beispiel beim Übersetzen fast den doppelten Output von einem anderen Übersetzer bringen in der gleichen Zeit, in der gleichen Qualität, weil ich nur das mache.

Aber [das geht] halt auch wieder nur, wenn die Situation passt. Zum Beispiel in einem Büro, in dem das Licht flackert, in einem Büro, in dem die Beleuchtung nicht stimmt, könnte ich das nicht, weil diese Ablenkung mich davon abhalten würde in diesen Zustand überhaupt reinzukommen.

Matthias Klaus: Jetzt aber auch mal andersrum gefragt. Ich bin blind. Ich sage das hier gern und oft, aber es gibt schon mal so Tage, wo ich denke: "Ach, heute mal nicht blind sein. Mal so Pause machen oder mal sehen können, wäre jetzt gerade mal sehr praktisch." Haben Sie das auch mal, dass Sie denken: "Ach, Autismus mal bitte abschalten für einen Tag?"

Ricky Zehrer: Also es gibt Situationen, in denen ich selbst davon genervt bin. Wirklich abschalten möchte ich ihn eigentlich nicht, aber vielleicht gelegentlich einzelne Punkte ein bisschen runterregeln wäre nicht schlecht. Man hört öfter mal (üblicherweise von nicht-Autisten), dass ihnen auffällt, dass wenn Autisten so ein bisschen krank sind, ein bisschen erkältet sind, sie auf einmal normaler wirken als sonst.

Für mich ist das so: Wenn ich so ein bisschen erkältet bin, ein bisschen Watte im Kopf hab, dann fällt das aus für mich. Dann nehme ich nicht alles wahr, dann habe ich mehr Kapazitäten für was anderes. Und wenn es dann nicht Corona ist, warte ich immer diesen Moment ab und gehe dann mal auf den Weihnachtsmarkt, weil ich dann tatsächlich mit diesen "Watte im Kopf Gefühl" den Weihnachtsmarkt auch aushalten kann. 

Matthias Klaus: Würden Sie sich selbst als "behindert" bezeichnen?

Ricky Zehrer: Mehr durch die kaputte Schulter als durch den Autismus, aber auch das wieder in dem Wissen, dass ich mir eine Situation geschaffen habe, schaffen konnte, in der [die Behinderung] mich relativ wenig einschränkt. Wenn ich die von mir für mich geschaffenen Ausweichmöglichkeiten abziehe, müsste ich sagen: "Ja."

Matthias Klaus: Aber Sie haben die Möglichkeiten ja selbst geschaffen. Also die Welt ist nicht so, dass man sagen könnte: "Ach, super für Autisten. Wir kommen alle ganz toll klar."

Ricky Zehrer: Das wäre aber keine Welt., man hört ja immer gern... Also ich weiß nicht, ob Sie das hören, aber ich sehe das öfter mal, dass Leute sagen: "Ja, wenn die Gesellschaft so und so wäre, dann hätte..." Oder "Wenn man in einer Gesellschaft nur für Autisten leben würde, dann hätten Autisten keine Probleme."

So ist es nicht. Ich kann in den Wald gehen, da ganz für mich alleine sein und trotzdem überladen, weil im falschen Moment das Licht aus der falschen Richtung kommt. Weil ich zu viel rieche, weil ein Vogel singt, der jetzt gar nicht eingeplant war.

Es gibt keine Umwelt, in der ich als Autist nicht auf meinen Autismus achten müsste. Deswegen ist es für mich auch schwer zu sagen: "Die Umwelt ist das, was mich behindert." Inwieweit kann ich das noch sagen? Wenn es keine Umwelt gibt, die das nicht tun würde. Dann liegt es doch irgendwie... Es ist doch irgendwie der, der Punkt an mir, in mir, in meiner Verkabelung. 

Matthias Klaus: Dann brauche ich Ihnen ja die Frage, "Wie müsste die Welt anders sein, damit das für Sie einfacher wäre?" eigentlich gar nicht mehr stellen.

Ricky Zehrer: Ja gut, einfacher geht immer.

Matthias Klaus: Ja. Ein paar Beispiele?

Ricky Zehrer: Wenn weniger lichter blinken, wenn weniger Hintergrundlärm ist, wenn in jedem Supermarkt [keine Hintergrundmusik spielen würde]. Wobei das bei uns (also ich bin beruflich relativ viel international unterwegs) in Deutschland ja noch relativ zurückhaltend ist.

Also in England kann ich nicht in den Supermarkt gehen, da ist die Hintergrundmusik noch viel lauter und da lenkt sie mich dann auch tatsächlich ab. Aber es langt bei uns schon vielen Autisten. Für mich persönlich ein Game-Changer waren die Selbstbedienungskassen, dass ich meinen Einkauf in Ruhe machen kann und nicht ständig jemanden in den Hacken hab von hinten und noch dann denken muss: "Möglichst nicht zu böse zu gucken, dass die Kassiererin nicht Denkt: Sie hat was falsch gemacht." Die Möglichkeit, einfach den Kontakt in der Menge zu gestalten, der für mich funktioniert.

Im Studium (Ich habe noch zu Diplom-Zeiten studiert) wäre Anwesenheitspflicht für mich eine Katastrophe gewesen. Die Möglichkeit sich virtuell zu Veranstaltungen hinzuzuschalten wär eine super Sache, weil ich mich nicht dem ganzen Umfeld aussetzen müsste.

Mein Stresspegel geht bei der Vorstellung von manchen Sachen jetzt ein bisschen hoch, was dazu führt, dass mir der Papagei ins Gesicht kriecht. Das ist mein Stress-Barometer hier.

Matthias Klaus: Der funktioniert wirklich so?

Ricky Zehrer: Der funktioniert tatsächlich so.

Es ist doch dieses Zuviel der ständigen Reiz-Inputs. Da ist es oft schwer, den eigenen Stresspegel zu messen. Ich empfehle in der Regel anderen Autisten so eine Sport-Watch, die Blutdruck und den Puls misst. Daran kann man ganz gut ablesen, wie hoch gerade der Stress ist. Ja, ich habe einen Papagei, der da sehr fein drauf reagiert.

Matthias Klaus: Das ist der, den wir hier die ganze Zeit [im Hintergrund] hören? [Während des gesamten Interview zwitscherten im Hintergrund Vögel]

Ricky Zehrer: Nee. Der sitzt jetzt hier tatsächlich leise bei mir. Der, den Sie hören, ist der andere Papagei, der sitzt im Nebenzimmer.

Matthias Klaus: Ricky Zehrer heute in "Echt behindert!" zum Thema: "Wie geht eigentlich Autismus?" Das war's für heute. Ich danke Ihnen sehr herzlich, dass Sie mit mir im Podcast waren und mir so ausführlich auf meine Fragen geantwortet haben. Vielen Dank! 

Ricky Zehrer: Sehr gern.

Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" für heute. Mein Name ist Matthias Klaus.

Jingle: Mehr Folgen unter dw.com/echtbehindert.

Hinweis der Redaktion: Dieses Transkript wurde unter Nutzung einer automatisierten Spracherkennungs-Software erstellt. Danach wurde es auf offensichtliche Fehler hin redaktionell bearbeitet. Der Text gibt das gesprochene Wort wieder, erfüllt aber nicht unsere Ansprüche an ein umfassend redigiertes Interview. Wir danken unseren Leserinnen und Lesern für das Verständnis.