Autoreifen: Löwenzahn statt Kautschuk?
10. März 2021Der Bedarf an Naturkautschuk ist groß, doch der Rohstoff ist knapp. Außerdem muss er von weit her importiert werden. Dieses Dilemma veranlasste russische Wissenschaftler bereits 1931 nach einer Alternative zu suchen. Sie forschten in den Weiten der Sowjetunion und untersuchten rund eintausend verschiedene Pflanzenarten, um einen Ersatz für den Saft des südamerikanischen Kautschukbaums Hevea brasiliensis zu finden. In der kasachischen Steppe wurden sie schließlich fündig und entdeckten einen hohen Kautschukgehalt in den Wurzeln des Russischen Löwenzahns.
Mit dieser Pflanze, Taraxacum koksaghyz, deckte die damalige Sowjetunion bis 1941 ein Drittel ihres Gummibedarfs. Da während des Zweiten Weltkrieges Hevea-Kautschuk knapp war, begannen auch andere Länder, darunter die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Deutschland mit dem Anbau von Russischem Löwenzahn für die Gummiherstellung. Nach dem Krieg normalisierte sich die Versorgungslage mit Hevea-Kautschuk, auch in der Sowjetunion. Man stieg wieder um auf den althergebrachten Gummirohstoff, denn der war billiger.
Heute aber wächst das Interesse am Russischen Löwenzahn erneut. Denn die Nachfrage nach Kautschuk steigt ständig, insbesondere durch die Reifenindustrie. Sie verbraucht jedes Jahr 70 Prozent des weltweiten Kautschukangebots.
Weltweite Abhängigkeit vom Kautschuk
Rund zwei Drittel des weltweit verbrauchten Gummis wird aus fossilen Brennstoffen wie Erdöl gewonnen. Dieser synthetische Kautschuk ist billiger und widerstandsfähiger als sein natürliches Pendant. Naturkautschuk hingegen leitet Wärme besser ab und hat eine bessere Haftung. Autoreifen werden daher aus einer Mischung beider Materialien hergestellt.
Etwa 90 Prozent des Naturkautschuks weltweit werden auf Plantagen in Südostasien gewonnen. Dafür jedoch werden immer mehr Regenwälder abgeholzt. Es gibt also wirtschaftliche und ökologische Gründe, warum die Reifenindustrie gerne eine Alternative finden würde.
Hinzu kommt die Gefahr durch den Schlauchpilz, Microcyclus ulei. Ganze Kautschuk-Plantagen hatte er im 19. Jahrhundert in Südamerika befallen und deren Bäume vernichtet. Das macht die Reifenindustrie mit Blick auf die großen Anbauflächen in Südostasien nervös. Denn die Bäume stehen eng aneinander und sind genetisch nahezu identisch. Ein Befall kann sich entsprechend rasant ausbreiten.
Die Wiederentdeckung des Löwenzahns
In den vergangenen Jahren gab es daher in Europa und in den USA immer wieder neue Versuche, Kautschuk aus Löwenzahn zu gewinnen, darunter auch das Projekt Taraxagum, eine gemeinsame Initiative des Reifenherstellers Continental und dem Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und angewandte Ökologie in Aachen, Deutschland.
"Continental hat Löwenzahn-Gummi getestet und gesehen, dass das Material in einigen Bereichen dem Hevea-Kautschuk überlegen ist", sagt Dirk Prüfer, Biotechnologe im Taraxagum-Team. Sowohl Continental als auch der indisch-niederländische Konkurrent Apollo Tyres haben aus Löwenzahngummi bereits Fahrradreifen hergestellt. Und auch die Tests mit LKW-Reifen aus Löwenzahn seien "vielversprechend", heißt es bei Continental.
Apollo Tyres war Teil des von der EU geförderten Konsortiums DRIVE4EU. Zwischen 2014 und 2018 wurde hier entlang der gesamten Produktionskette von Löwenzahn-Gummi gearbeitet. Ein Vorteil: Anders als der Gummibaum gedeiht Russischer Löwenzahn auch in gemäßigten Klimazonen. "Wir haben den Löwenzahn in Belgien, den Niederlanden und Kasachstan angebaut", sagt Ingrid van der Meer, Koordinatorin von DRIVE4EU. Andere Forscher hätten die Pflanze außerdem in Schweden, Deutschland und den Vereinigten Staaten kultiviert.
Löwenzahnkautschuk ohne Chemie
Russischer Löwenzahn gedeiht auch auf kargen, nährstoffarmen Böden, so dass sein Anbau nicht mit landwirtschaftlicher Nutzfläche konkurriert. Prüfers Team erforscht zudem, ob sich auch Brachflächen ehemaliger Industriestandorte, wo der Boden üblicherweise stark kontaminiert ist, für den Anbau eignen. "In der Nähe von Köln oder auch Aachen gibt es große Flächen, die genutzt werden könnten", so Prüfer.
Nach der Ernte des Löwenzahns wird mit Hilfe der sogenannten "Heißwasserextraktion" der Kautschuk aus der Pflanze gewonnen. "Dafür werden die Wurzeln mechanisch zerkleinert und mit Wasser versetzt", erklärt van der Meer. "Das geschieht unter hohen Temperaturen, große Mengen an Chemikalien braucht es nicht."
Ganz anders bei der Gewinnung des Hevea-Kautschuk: Vor der Ernte versprühen Arbeiter gesundheitsschädliche Unkrautvernichter in den Plantagen. Bei der Weiterverarbeitung werden zudem Lösungsmittel eingesetzt. Die Folge sind chemische Abfälle, die bei unsachgemäßer Entsorgung eine Gefahr für Mensch und Umwelt darstellen.
Ungelöste Umweltprobleme bei der Reifenproduktion
So könnte der Einsatz von Löwenzahn zwar die Produktion von Gummi umweltfreundlicher machen. Aber daran, dass die Nutzung von Autoreifen per se schädlich für die Umwelt ist, kann er nicht viel ändern. Denn durch Reifenabrieb auf der Straße entsteht Mikroplastik, geschätzt rund 100.000 Tonnen pro Jahr. Dieses Mikroplastik wird über die Luft transportiert und gelangt so in Flüsse und Ozeane.
Sind die Reifen abgenutzt, landen sie in der Regel auf der Mülldeponie. Denn die Mischung aus unterschiedlicher Rohstoffe macht ein Recycling extrem schwer. "Ein Reifen muss verschiedene Eigenschaften haben, die eine Gummiart allein gar nicht mitbringt", erklärt Francesco Piccihoni, Experte für Gummirecycling an der Universität von Groningen in den Niederlanden. "Reifen aus Naturkautschuk nutzen sich schneller ab. Würde man Reifen allein daraus herstellen, müsste man sie viel häufiger wechseln", ergänzt Piccihoni.
Selbst wenn es gelänge, auf europäischen Brachflächen Kautschuk anzubauen, würde das die Abholzung von Regenwald in Asien nicht automatisch verhindern. Georg Cadisch vom Institut für Tropische Agrarwissenschaften geht davon aus, dass Wälder solange weiter abgeholzt werden, solange das gewonnene Land profitabler für Landwirtschaft genutzt werden kann. "Die Kautschukbauern müssen überleben, also würden sie einfach andere Feldfrüchte anbauen", sagt er. So werden in China und Thailand auf ehemaligen Kautschukplantagen bereits Ölpalmen oder Bananen angebaut, fügt er hinzu.
Wie stehen die Chancen für den Löwenzahnkautschuk?
Dennoch argumentieren die Befürworter des Russischen Löwenzahns, dass es bei weiter steigender Nachfrage eine Kautschukquelle braucht, für die nicht immer mehr Regenwald gerodet werden muss. Außerdem würde ein Anbau in der Nähe der europäischen und US-amerikanischen Reifenfabriken auch die CO2-Emissionen beim Transport sinken lassen.
Und auch was die Leistung des Löwenzahnkautschuks anbelangt, scheinen die Hersteller durchaus zufrieden. "In dem Moment, wo Naturkautschuk aus Löwenzahn in nennenswerten Mengen verfügbar ist, wird Apollo Tyres das Material wieder einsetzen und weitere Reifenprodukte entwickeln", sagt der technische Leiter des Projekts, Daniele Lorenzetti.
Und doch: "Um mit Kautschuk aus Südostasien konkurrieren zu können, müssen die Produktionskosten von Löwenzahnkautschuk deutlich sinken. Noch ist das aber nicht der Fall", ergänzt van der Meer, die weiter an der Optimierung des Löwenzahn-Anbaus arbeitet. Europas Industriebrachen werden vorerst also nicht zu gelben Löwenzahnfeldern. Aber vielleicht gibt es ja doch eine Zukunft für einen Rohstoff, der in seiner Vergangenheit bereits Industriegeschichte geschrieben hat.