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Bauer: Chibok-Mädchen als "Statussymbole"

Jan Philipp Wilhelm27. August 2015

Der Journalist Wolfgang Bauer hat in Nigeria mit Frauen gesprochen, die nach Monaten der Gefangenschaft von Boko Haram entkommen konnten. Im DW-Gespräch berichtet er von deren Schicksal und dem der Mädchen aus Chibok.

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Lagos: Schülerinnen demonstrieren für Freilassung der Chibok-Mädchen. Foto: REUTERS/Akintunde Akinleye
Nigerianische Schülerinnen demonstrieren für die Freilassung der Chibok-MädchenBild: reuters

DW: Herr Bauer, Sie waren vor kurzem in Nordnigeria und haben dort mit Frauen und Mädchen gesprochen, die als Gefangene der Terrorgruppe Boko Haram Entsetzliches gesehen und erlebt haben. Welche Spuren haben die Begegnungen bei Ihnen hinterlassen?

Wolfgang Bauer: Ich habe diese Frauen und Mädchen zwei Wochen lang interviewt, was für sie natürlich viel anstrengender war als für mich. Aber auch ich war hinterher erschöpft, auch ich habe mir diese breit gefächerte Grausamkeit kaum vorstellen können. Ich glaube, es gibt wenige Landstriche auf der Welt, die so massiv, so systematisch Grausamkeiten durchleiden müssen wie der Nordosten Nigerias.

Neben Hass und Gewalt sät Boko Haram vor allem tiefes Misstrauen in den betroffenen Regionen. Leidtragende sind gerade jene traumatisierten Frauen und Mädchen, die aus der Gefangenschaft der Terrorgruppe fliehen konnten und nun in vielen Fällen von der Gemeinschaft verstoßen werden. Wem können die Frauen denn noch vertrauen?

Sie können sich eigentlich nur an ihre eigene Familie wenden, sofern die ihnen vertraut. Denn gerade dort, wo Familien durch Entführungen auseinandergerissen wurden, herrscht oft Misstrauen zwischen dem entführten und dem nicht entführten Teil. Ich habe aber auch erlebt, dass sich innerhalb von Familien Selbsthilfegruppen bilden, in denen sich die Verwandten gegenseitig schützen. Am wenigsten können sich die Opfer auf Hilfe von außen verlassen. Denn die Menschen können nicht genau einschätzen: Ist jemand Opfer oder gleichzeitig auch Täter? Das ist das Perverse am System von Boko Haram: Viele der Mädchen, die sich jetzt in die Luft sprengen, wurden entführt und einer Gehirnwäsche unterzogen. In Nigeria wurden also nicht nur Gebäude zerstört, sondern auch Vertrauensstrukturen.

Nigeria Befreite Geiseln Boko Haram. Foto: AP Photo/Jossy Ola
Befreite Boko-Haram-Geiseln vor einem Armeebüro in Maiduguri, NordnigeriaBild: picture-alliance/AP Photo/J. Ola

Der nigerianische Staat hat im Süden des Landes sogenannte Entradikalisierungslager eingerichtet. Ist das ein positiver Schritt? Oder trägt die Zwangseinweisung der geflohenen Frauen in solche Lager weiter zu deren Marginalisierung bei?

Ich glaube, Letzteres ist der Fall. Was dort genau gemacht wird, kann man von außen nicht beurteilen. Nach meiner Kenntnis haben dort bislang keine Journalisten Einblick erhalten. Ich habe den Verdacht, dass es sich da eher um Verhörzentren handelt. Wenn selbst engste Familienmitglieder die Opfer nicht besuchen dürfen - wie sollen die Menschen entradikalisiert werden, wenn nicht durch die Erinnerung an das Leben vor Boko Haram? Es ist mir völlig rätselhaft, was die nigerianischen Behörden mit diesen Frauen tun. Ich erhoffe mir da mehr Transparenz.

Heute vor genau 500 Tagen sorgte die Entführung von 276 Mädchen aus einem Internat in Chibok für internationales Entsetzen. Die von Ihnen interviewten Opfer berichten, dass die Chibok-Mädchen im bizarren Sozialgefüge von Boko Haram eine sehr spezielle Rolle einnehmen. Können Sie das näher beschreiben?

Ich habe verschiedene Frauen interviewt, die einigen der Chibok-Mädchen in Gefangenschaft begegnet sind. Mein Eindruck war, dass diese Mädchen jetzt zu einer Art Palastdienerschaft der Führungskräfte von Boko Haram geworden sind. Zum Beispiel umsorgen offenbar mehrere Chibok-Mädchen die Hauptfrau des Boko-Haram-Chefs Abubakar Shekau. Ich habe auch gehört, dass sie andere entführte Mädchen im Islam unterrichten und sie schlagen, dabei aber auch selbst unter Bewachung stehen. Der Besitz eines Chibok-Mädchens scheint ein Statussymbol geworden zu sein, ähnlich wie hierzulande der Besitz eines Mercedes. Grund dafür ist sicherlich das große internationale Interesse an den aus dem Internat entführten Mädchen.

Nigeria Armee Operation gegen Boko Haram. Foto: EPA/STR
Nigerianische Soldaten zerstören Ende Juli ein Camp von Boko HaramBild: picture-alliance/dpa

In einer Reportage, die Sie über Ihre Gespräche mit den Opfern geschrieben haben, betonen Sie, dass der innerste Zirkel von Boko Haram zur Volksgruppe der Kanuri gehört. In der westlichen Berichterstattung liest man davon nur sehr selten. Welche Rolle spielt die ethnische Dimension im Konflikt?

Ich glaube, das ist ein unterschätzter Faktor. Zwar liest man in den Medien in der Tat relativ wenig davon, in wissenschaftlichen Aufsätzen und auch in den Berichten der Frauen, die ich interviewt hatte, spielt die ethnische Dimension aber eine Rolle. Die Kanuri bilden offenbar das Rückgrat von Boko Haram. Sie haben vor der Kolonialzeit über ein riesiges Reich geherrscht und offenbar gelingt es Boko Haram, an diese Traditionen anzuknüpfen - verbunden mit dem Versprechen, das Reich wieder auferstehen zu lassen. Diese Anknüpfung ist ein wichtiger Grund, warum es Boko Haram in dieser Größenordnung überhaupt gibt und sie sich seit Jahren dem nigerianischen Militär widersetzen können.

Sie zeichnen in Ihrer Reportage ein sehr bewegendes, vor allem aber auch ein sehr düsteres Bild der von Boko Haram terrorisierten Regionen. Sie waren vor Ort, haben mit den Menschen gesprochen. Was muss passieren, damit wieder Frieden einkehren kann?

Das ist die große Frage. Ich sehe als großes Problem, dass nach der Befreiung weiter Landstriche durch die Armee nun Rachekonflikte zwischen verschiedenen Dörfern und Volksgruppen entstanden sind. Das Militär hat dort vielfach Dorfmilizen die Kontrolle überlassen, die sich für Gräueltaten rächen wollen, die unter dem Boko-Haram-Regime begangen wurden. Es wäre daher wichtig, dass nicht nur Militärs in diese Regionen reisen, sondern auch Zivilbeamte, dass es Kommissionen gibt, die Frieden stiften und Waffenstillstände vereinbaren können. Das Militär darf seine Präsenz nicht nur auf die Hauptstraßen und wichtigsten Städte beschränken, sondern muss auch in die Dörfer gehen, wo die Rachekonflikte gerade am intensivsten ausgefochten werden. Es wäre gut, wenn die Weltgemeinschaft das nigerianische Militär darin unterstützen würde, stärker in die Fläche zu gehen. Doch wenn Nigeria - und so sieht es derzeit aus - ein stärkeres Engagement der internationalen Gemeinschaft ablehnt, sind den Bemühungen natürlich Grenzen gesetzt.

Wolfgang Bauer berichtet für das ZEIT-Magazin regelmäßig aus den Krisengebieten der Welt. Für seine jüngste Reportage war er zwei Wochen lang im Nordosten Nigerias.

Das Interview führte Jan Philipp Wilhelm.