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Musik

Kent Nagano dirigiert die Missa Solemnis

Gaby Reucher
29. Oktober 2021

Selten wird Beethovens "größtes" Werk in einer Kirche aufgeführt. Zum Abschlusskonzert des Beethovenjahres dirigiert Kent Nagano die Missa Solemnis im Kölner Dom.

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Kent Nagano vor einem Poster, dass einen Konzertraum aus der Elbphilharmonie zeigt.
Kent Nagano ist Generalmusikdirektor der Hamburger Staatsoper und Chefdirigent des Philharmonischen Staatsorchesters HamburgBild: Christian Charisius/dpa/picture alliance

In einigen Tagen, am 22.11.2021, wird Kent Nagano 70, doch sein Terminkalender ist voll. Von Ruhestand kann keine Rede sein. Noch eingeschoben hat er die Aufführung der Missa Solemnis im Kölner Dom mit dem Originalklang-Ensemble Concerto Köln, dem Vokalensemble des Kölner Doms sowie namhaften Solistinnen und Solisten. Das Konzert war im Rahmen des Bonner Beethovenfestes eigentlich schon für 2020 geplant, konnte aber wegen der Corona-Pandemie nicht stattfinden.

Kent Nagano und Concerto Köln sind ein eingespieltes Team. Seit 2017 arbeiten sie gemeinsam an einem großen Forschungsprojekt zu Wagners Zyklus "Ring des Nibelungen". Wagners "Rheingold" führen sie am 18. November in der Kölner Philharmonie auf. Es geht darum, Wagner aus dem Blickwinkel der historischen Aufführungspraxis zu interpretieren. Auch die Missa Solemnis von Ludwig van Beethoven wird auf historischen Instrumenten interpretiert.

Concerto Köln Gruppenfoto
Das Ensemble Concerto Köln hat befreundete Musiker dazu geholt, um eine Orchesterstärke von 40 Personen zu erreichenBild: Genovesi

"Kent Nagano nimmt die historische Aufführungspraxis sehr ernst", sagt Alexander Scherf, künstlerischer Leiter von Concerto Köln. Nagano sei kein ausgewiesener Experte der historischen Aufführungspraxis und deshalb auf das Fachwissen des Ensembles angewiesen. "Er nimmt das auf und entwickelt daraus ein großes Ganzes." Die Arbeit mit ihm sei ein ständiges Geben und Nehmen. "Das ist auch die einzige Arbeitsweise, die wir als rebellisches altes Ensemble akzeptieren", sagt Scherf scherzhaft im Gespräch mit der DW.

Beethoven im Originalklang

Normalerweise spielt das Ensemble ohne Dirigenten, doch Kent Nagano haben die Mitglieder wegen seiner Offenheit sogar zu ihrem "Ehrendirigenten" ernannt. Nagano hat sich dafür auf der Homepage des Ensembles bedankt: "Die Energie und Kraft des Orchesters, das zupackende Spiel und die musikalische Neugier von Concerto Köln sind inspirierend. Ich freue mich sehr, Ehrendirigent dieses Ensembles zu sein."

Concerto Köln ist weltweit bekannt für die originalgetreue Spielweise barocker Werke. Für die Missa Solemnis haben die Mitglieder Original-Instrumente aus der Zeit Beethovens dabei. "Gerade was die Bläser angeht, sind das klassische Instrumente genau aus dieser Epoche", erklärt Alexander Scherf. Und fügt hinzu: "Wenn Chor und Orchester zusammenspielen, beachten wir immer die Text- und Silbenverteilung." Das heißt zum Beispiel, wenn im Text etwas besonders hervorgehoben wird, richtet sich auch das Instrumentenspiel danach. Man nennt diese Spielart "rhetorisches" Musizieren. Sie dient dem Textverständnis und der Transparenz eines Werkes.

Die Missa Solemnis im Hohen Dom zu Köln

bekanntes Ölgemälde, Ludwig van Beethoven mit weißem Kragen und rotem Halstuch, in den Händen hält er eine Partitur und einen Stift.
Das Porträt von Karl Joseph Stieler zeigt Beethoven mit der Partitur der Missa Solemnis Bild: picture-alliance/Leemage/L. Ricciarini

Ludwig van Beethoven vollendete die gewaltige Missa solemnis in D-Dur op. 123 im Alter von 53 Jahren, er komponierte sie zwischen 1819 und 1823. Der Auftrag kam von Erzherzog Rudolf von Österreich, einem großen Förderer und Schüler Beethovens. Beethoven sollte eine Festmesse für seine Ernennung zum Erzbischof komponieren, doch dafür brauchte Beethoven zu lange, nämlich fast viereinhalb Jahre.

Auch die Missa  war mit anderthalb Stunden viel zu umfangreich für eine liturgische Messe. Sie wird bis heute meistens in Konzertsälen aufgeführt. Mindestens 600 Seiten Skizzen liegen von Beethovens Missa Solemnis vor. Geschäftstüchtig wie er war, hatte er die Messe gleich mehreren Verlagen zum Kauf angeboten. Mit dem Schott-Verlag wurde er dann schließlich handelseinig und schrieb dem Verleger: "So schwer es mir wird, über mich selbst zu reden, so halte ich sie doch für mein größtes Werk."

Der Glaubenskonflikt

Die Missa Solemnis sei eigentlich eher ein groß angelegtes Oratorium, sagt Alexander Scherf, da sie textlich und entsprechend musikalisch dramatisch gestaltet ist. "Beethoven interpretiert in der Messe das Verhältnis zwischen Gott und Mensch, zwischen der himmlischen Sphäre und dem irdischen Leben", sagt Scherf, der nicht nur künstlerischer Leiter von Concerto Köln ist, sondern im Ensemble auch Cello spielt. Wenn Beethoven zeige, wie kompliziert es für den Menschen ist, an Gott zu glauben, dann nutze er komplizierte Melodieverläufe. "Und wenn das Göttliche zur Sprache kommt, dann ist es ein großer homophoner Satz in einer grandiosen Einheit."

Innenansicht vom Kölner Dom
Große Architektur für die große Missa Solemnis: der Kölner DomBild: Peter Schickert/imago images

Auf diese Art und Weise macht Beethoven den Widerstreit zwischen dem Göttlichen und dem Individuum - ein Thema, das im Zeitalter der Aufklärung viele Menschen bewegte - musikalisch erlebbar. "Ich kenne keine Messekomposition, die so zärtliche und zerbrechlich fragile Momente hat wie die Missa Solemnis, und das steht natürlich in einem grandiosen Gegensatz zu dem pathetischen großartigen hymnischen Teil", schwärmt Alexander Scherf, der die Messe mit Concerto Köln in der Vergangenheit bereits einige Male gespielt hat.

Beethoven und Stockhausen

Ursprünglich sollte die Missa Solemnis im vergangenen Jahr zum 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven im Rahmen des Bonner Beethovenfestes erklingen, das wegen Corona ausfiel. Das Beethovenjahr wurde in Deutschland um ein Jahr verlängert, und so ist die Missa Solemnis nun unfreiwillig der musikalische Abschluss des Beethovenjahres BTHVN 2020.

Nike Wagner, die im Spätsommer das letzte Mal das Beethovenfest leitete, hat sich für dieses Konzert etwas ganz Besonderes ausgedacht. Zwischen dem ersten und dem zweiten Teil der Missa Solemnis lässt sie ein frühes Werk von Karlheinz Stockhausen, einem Pionier der elektronischen Musik, erklingen. In seinem "Gesang der Jünglinge" verband er erstmals die menschliche Stimme mit elektronischen Klängen, zu hören über Tonband aus mehreren Lautsprechern. Stockhausen hatte das Werk eigens für den Kölner Dom komponiert, doch eine Aufführung wurde damals abgelehnt.

Komponist Karlheinz Stockhausen in jungen Jahren vor seinen Synthesizern.
Komponist Karlheinz Stockhausen experimentierte im Studio des Westdeutschen Rundfunks mit elektronischer MusikBild: picture-alliance/akg-images

"Das Text-Material entstammt dem 'Gesang der Jünglinge im Feuerofen' aus dem dritten Buch Daniel - eine biblische Lobpreisung Gottes, die zugleich Widerstand gegen politische Tyrannei bedeutete. Zeitgeschichte blickt durch das Messe-Ritual", erläutert Nike Wagner im Grußwort. Mit diesem musikalischen Kontrast-Programm realisiere sie ein Anliegen ihrer Amtszeit: "Beethoven in seiner Gegenwärtigkeit neu zu verstehen, neu zu erleben."

Beethovens Missa Solemnis wird aus dem Kölner Dom per Livestream von der Deutschen Welle, dem WDR und dem Fernsehsender Arte übertragen. Die Deutsche Welle überträgt in den nicht deutschsprachigen Raum. Im deutschsprachigen europäischen Raum können sie das Konzert  unter diesem Link verfolgen.